Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
wann lässt Walli sich dazu herab, mir zu simsen? Stirnrunzelnd öffne ich die Nachricht und lese sie.
Schlucke.
Kopiere den Link, den Walli mir geschickt hat, und gehe ins Internet, während ihre knappe Nachricht durch meinen Kopf jagt.
Hat Mattis das schon gesehen?, schreibt Walli spöttisch. Ehrlich, ich hätte dich für treuer gehalten.
Dunkelgrüner Schreck mischt sich mit schmierig-grauem Entsetzen, als ich es auf YouTube sehe: das kurze, verschwommene Video von mir und Noah in der Nacht. An der Wand. In eindeutiger Absicht zugange.
Oh. Mein. Gott.
Wie betäubt starre ich auf mein Smartphone. Schaue mir das Video noch einmal an, frage mich, warum es im Internet zu sehen ist. Begreife im selben Moment, dass ich das Vivian zu verdanken habe – dass dies ihre Rache an mir ist, weil ich ihr Mattis weggeschnappt habe – dass sie den Link an alle, alle schicken wird, die sie kennt. Wahrscheinlich schon geschickt hat. An alle aus unserer Klasse. An alle aus unserer Schule.
Auch an Mattis . Vor allem an Mattis.
Tränen steigen in mir auf, als ich die Szene mit den Augen der anderen betrachte.
Ein Junge und ein Mädchen, allein hinter dem Haus.
Er, der gutaussehende Charmeur, raunt ihr, die früher einmal sehr verliebt in ihn gewesen war, etwas ins Ohr. Obwohl sie mittlerweile einen anderen Freund hat, stößt das Mädchen den Jungen nicht weg. Sondern verharrt, stützt sich weiter an der Wand ab, in einer lüsternen, beinahe obszönen Pose. Sie sieht aus, als hielte sie sich bereit.
Und der Junge enttäuscht das Mädchen nicht: Er drückt seinen Körper von hinten fest an den ihren, reibt sich an ihrem Hintern. Als könne er es kaum erwarten, sie so zu vögeln, in der Sommernacht, gegen die Wand gelehnt, und sie lässt es geschehen, Sekunde um Sekunde um Sekunde. Bis er sie umdreht … Mit seinen Armen umfängt … Seine Hände in wilder Erregung ihre Brüste kneten und …
Cut.
Mit einem Wimmern sinke ich auf den Stuhl.
Vivian hat das Video strategisch perfekt geschnitten. Dass ich im Folgenden nicht willig mit Noah geschlafen, sondern ihm mein Knie zwischen die Beine gerammt habe, würde kein Mensch, der nicht dabei gewesen ist, vermuten.
Mein Herz stolpert, meine Hände zittern. Ob Mattis das Video schon gesehen hat? Natürlich hat er, jagt es fiebrig, panisch durch meinen Kopf, Mattis war bestimmt der Erste, dem Vivian den Link geschickt hat. Vielleicht hasst er mich bereits. Vielleicht hat er in Gedanken schon längst mit mir Schluss gemacht. Vielleicht ist er fest entschlossen, nie wieder mit mir zu sprechen. Mich nicht anzuhören. Dem Mädchen, das er geliebt hat, diese schlimmste aller Verletzungen niemals zu verzeihen. Dabei war doch alles ganz anders … Aber das weiß Mattis ja nicht.
Ich muss mit ihm reden! Auf der Stelle.
Schon greife ich wieder nach dem Smartphone, tippe seine Nummer ein, doch im letzten Moment zögere ich. Statt Mattis anzurufen, sollte ich ihm vielleicht lieber eine SMS schreiben. Denn wenn ich seine Stimme höre, fange ich innerhalb von drei Sekunden an zu heulen, so viel ist klar.
Heulend kann ich Mattis jedoch nicht erklären, was passiert ist. Heulend werde ich wirken, als hätte ich ein schlechtes Gewissen. Als sei die Szene, die Mattis gesehen hat, tatsächlich so passiert, wie sie auf ihn wirken muss.
Ich muss mich zusammenreißen! Muss klar denken, soweit das bei meinem dröhnenden Schädel möglich ist. Muss beweisen, dass das Offensichtliche – ich, Noah und sein lüsternes Gefummel – nicht die ganze Wahrheit ist. Denn wenn ich Mattis nicht davon überzeugen kann, dass es anders gelaufen ist, als es auf diesem verfluchten Video aussieht … Dann werde ich ihn verlieren. Sofort und für immer.
Und das ertrage ich nicht.
Also schicke ich Mattis meine erste, vorsichtige SMS .
Hey, Mattis. Sorry, dass ich dich gleich damit überfalle, aber ich muss es wissen: Hat Vivian dir den Link geschickt?
Dann warte ich. Ich bete, dass er sein Handy anhat. Dass er – sofern er das Video schon gesehen hat – eine SMS , die von mir kommt, überhaupt noch liest. Und noch während ich warte, bete, hoffe, kommt die Antwort.
Sie besteht aus einem einzigen Wort.
Ja.
Ich schließe die Augen. Mein Magen rebelliert, will alles von sich geben, was von dieser Scheiß-Nacht in ihm ist. Doch ich ignoriere die Übelkeit. Dass mir schlecht ist, ist nicht wichtig. Mattis ist wichtig. Ich darf nicht zulassen, dass er mich verlässt. Das ist alles, was zählt.
Das Video zeigt
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