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Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Titel: Der Geschmack von Sommerregen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Leuze
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zieht sich mein heißes YouTube-Video rein, und Mattis bricht den Kontakt zu mir ab, weil er mir nicht vertraut.
    Warum wundert dich das?, flüstert es traurig in mir, während ich würge und spucke. Du vertraust ihm doch auch nicht. Erzählst ihm nichts, hältst all deine Geheimnisse vor ihm zurück, deine Farben, deine Oma, dein verfluchtes erstes Mal mit Noah. Du bist das beste Beispiel für gelebtes Misstrauen! Und da erwartest du im Ernst, dass Mattis, der dieses Misstrauen die ganze Zeit über gespürt hat, sich blind auf dich verlässt – angesichts eines solchen Videos? Dass er sich zufriedengibt mit Ausflüchten? Mit einem billigen »Schatz, es ist nicht so, wie du denkst«?
    Keuchend hänge ich über der Kloschüssel, und mein Magen beruhigt sich nur langsam, während die Fragen in mir nachhallen, ich sie wieder und wieder denken muss. Mühsam richte ich mich schließlich auf, drücke die Spültaste und wanke zum Waschbecken. Und als ich mir im Spiegel in die rot umränderten Augen starre, gebe ich endlich zu, was ich in der Tiefe meines Herzens schon so lange weiß.
    Liebe ohne Vertrauen ist zum Scheitern verurteilt.
    Mit hängenden Schultern schaue ich in den Spiegel, betrachte das einsame Mädchen mit der Verzweiflung im Blick. Wie soll ich das schaffen, vertrauen, wenn ich nie gelernt habe, wie es geht? Alles, was ich kann, ist schauspielern. Verbergen, verleugnen und mir damit die Liebe meiner Mutter und meines Vaters sichern. Vertrauen kam im Erziehungsprogramm meiner Eltern nicht vor, und ich weiß nicht, wie ich mir diese Lektion selbst beibringen soll.
    Ich starre mich an, niedergeschlagen und ratlos, und plötzlich steigt eine Erinnerung in mir auf: an einen Abend im Mai, keine fünf Wochen her. Lena hatte mir das erste Mal die Brauen gegelt, die Lippen geschminkt, den Pferdeschwanz geöffnet. Ich habe in den Spiegel geguckt, genauso intensiv wie jetzt. Habe mich gefragt, ob ich Mattis wohl je für mich gewinnen kann. Ob irgendwo in mir eine verborgene Stärke schlummert, die mir viel mehr ermöglicht, als ich es mir bisher zugetraut habe.
    Und in diesem Augenblick ist es, als lege sich ein Schalter in mir um.
    Ich habe Mattis bekommen. Er hat sich in mich verliebt, hat tatsächlich das Mädchen hinter den starken Augenbrauen gesehen. Mein Traum ist wahr geworden, und verdammt soll ich sein, wenn ich ihn jetzt einfach aufgebe! Wenn ich meine große Liebe verrate, mich selbst, all das, was ich sein könnte. Vielleicht war ich bisher zu feige, der Welt mein wahres Wesen zu zeigen – aber das heißt nicht, dass ich bis in alle Ewigkeit in dieser Feigheit verharren muss! Ich kann meine Ängste abschütteln – Mattis, mir, uns zuliebe – und mich auf den Weg machen. Nicht irgendwann. Nicht morgen.
    Sondern jetzt.
    Ich drehe den Wasserhahn auf und wasche mir mein Gesicht so lange mit eiskaltem Wasser, bis auch die letzte Benommenheit sich verflüchtigt hat. Ich putze mir die Zähne, kämme mein Haar, hebe das Kinn. Dann drehe ich mich um und gehe zurück in mein Zimmer. Auf dem Bett sitzend greife ich nach dem Smartphone, tippe eine SMS an Lena und schicke sie ohne zu zögern ab.
    Hey, Lena, tut mir leid wegen gestern. Ich muss dir ein paar Dinge erklären, wichtige Dinge, aber ich schaffe es wohl nicht vor morgen. Erhältst du mir so lange deine Freundschaft?
    Ich zittere nicht mehr, als ich auf Lenas Antwort warte. Wenn keine kommt – nun, dann rufe ich sie morgen an und erzähle ihr, was ich bis dahin über mich herausgefunden habe. Soviel oder sowenig es auch sein mag.
    Und auch Mattis werde ich morgen anrufen, oder besser: Ich werde zu ihm nach Hause gehen. Er muss mich anhören, ob er will oder nicht, und danach wird es an ihm liegen, wie er auf meine Geständnisse reagiert. Ob er mich, mein Wesen, mein Geheimnis, meine Fragen und die ersten Antworten darauf, tatsächlich annehmen und lieben kann. Oder ob er mich zurückstößt … und mir damit das Herz bricht. Dieses Risiko, das habe ich endlich kapiert, muss ich wohl eingehen, wenn unsere Beziehung von Dauer sein soll.
    Da kommt Lenas SMS : O . k.
    Sonst nichts.
    Wie es aussieht, ist auch Lena beleidigt. Klar: Sie hat sich Sorgen um mich gemacht und bekommt jetzt keine Erklärung von mir. Aber immerhin lässt sie mich nicht fallen, sie gibt mir noch einen Tag.
    Und vorerst genügt mir das.
    Als Letztes rufe ich meine Eltern an, lüge ihnen vor, dass alles bestens sei und ich das Wochenende mit Lernen und bei Mattis verbringe. Ob bei ihnen

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