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Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Titel: Der Geschmack von Sommerregen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Leuze
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blättert, innehält, liest. Ich warte darauf, dass sie findet, was sie mir zeigen will, und presse vor Anspannung die Kiefer aufeinander. Dann endlich ist es so weit. Ohne ein Wort reicht Anne mir das Tagebuch. Ich nehme es entgegen, hole tief Luft; mache mich bereit.
    Und springe.
    Ich tauche ein in die Vergangenheit. Tauche tief und immer tiefer, bis ganz hinunter, in lichtlose Schwärze. Ich zwinge mich, alles zu lesen, was meine Großmutter mir reicht: sehe meine Mutter als Baby, als kleines Kind, als Grundschülerin, meine Oma als junge Ehefrau, meinen Opa als wütenden, frustrierten Mann … Und schließlich erreiche ich das, worauf es ankommt.
    Das, was mir nie jemand erzählen wollte.
    Das, was unser aller Leben überschattet, seit ich denken kann.
    Das dunkle Herz der Vergangenheit.
    Mai 1967
    Liebes Tagebuch!
    Seit ich schwanger bin, ist es so schlimm wie nie.
    Heute ist Mittwoch, und ich schmecke den Wochentag rosarot auf der Zunge. Dass der Sommer in der Natur begonnen hat, fühle ich als gelbe Strahlen in meiner Seele. Und wenn ich das Radio einschalte und mein Lieblings-Hit Penny Lane gespielt wird, höre ich die Beatles nicht nur mit meinen Ohren, sondern erlebe sie als pulsierende, wilde Rottöne hinter der Stirn. Das alles könnte schön sein, wenn es nicht so anormal und beängstigend wäre. Ja, ich muss es zugeben: Ich habe Angst.
    Xaver erzähle ich nichts von meinen Anwandlungen, obwohl sie mir sehr zusetzen. Wenn ich weine, schiebe ich es darauf, dass Schwangere eben unausgeglichen sind. Ich habe Angst, dass er mich sonst einweisen lässt, jetzt, wo es so extrem wird. Xaver liebt mich, das weiß ich wohl, aber wer will schon mit einer Verrückten verheiratet sein? Ach, ich bete jeden Abend darum, dass das Baby meinen Wahnsinn nicht erbt!
    Ich muss schließen, ich höre Xavers Schritte auf der Treppe.
    *
    August 1967
    Liebes Tagebuch!
    Ich war bei der Beichte, und der Pfarrer hat mich eindringlich ermahnt, mich zusammenzureißen. Das werde ich von nun an mit aller Kraft versuchen!
    Zwar toben die Buchstaben, Töne und Wochentage in den fantastischsten Schattierungen in meiner Seele, aber ich bin fest entschlossen, ihnen keine Beachtung mehr zu schenken. Vielleicht wird das Baby mich ja heilen! Der Pfarrer zumindest vermutet das. »Der Teufel in Ihnen bäumt sich ein letztes Mal auf, Frau Meindl«, hat er gesagt, »aber wenn Sie stark sind und widerstehen, ist nach der Geburt gewiss alles vorbei. Kinder haben noch jeder Frau gutgetan.«
    Gebe Gott, dass er recht hat.
    Xaver ist froh, dass ich mich beherrsche und nicht mehr so viel vor ihm weine. Ach, ich möchte ihm so gerne eine gute Ehefrau sein, er ist mir doch auch ein guter Mann! In den drei Jahren, die wir verheiratet sind, habe ich nur ein einziges Mal harte Worte von ihm gehört – als ich versucht habe, ihm verständlich zu machen, dass in meiner Seele eine zweite Welt existiert, eine Welt aus Farben, die in dieser, der ersten Welt, keine Entsprechung haben. Grün ist mir widerlich in meiner Seele, aber grüne Wiesen und Bäume sehe ich gerne. Seltsam.
    Und wieder ein Beweis dafür, wie krank ich bin.
    Aber ich werde meine Krankheit unterdrücken, werde mich ihr nicht unterwerfen! Ich werde gesund und normal sein, bald. Oh, wie ich es herbeisehne, endlich von dem ganzen Wahnsinn befreit zu sein!
    Ist es nicht komisch, dass ich mich gleichzeitig ein klein wenig davor fürchte?
    *
    Dezember 1967
    Liebes Tagebuch!
    Das Baby ist da, ein wunderhübsches kleines Mädchen. Wir haben sie Bärbel genannt. Sie ist gesund und kräftig, und ich weiß, ich sollte überglücklich sein.
    Aber ihre Haut fühlt sich an wie ein puderiges Weiß, und ihren Namen sehe ich in dreidimensionalen, schokoladenbraunen Lettern. Mit einem Wort: verrückt. Ich bin immer noch verrückt.
    Der Pfarrer hat sich geirrt, die Geburt hat nichts zum Besseren gewendet. Im Gegenteil, der ständige Schlafmangel, Bärbels Weinen und mein schlechtes Gewissen, weil ich statt des ersehnten Mutterglücks bloß Erschöpfung fühle, haben alles nur noch schlimmer gemacht. Gestern habe ich einen schrecklichen Weinkrampf bekommen, und als Xaver mich dabei überrascht hat, habe ich mich ihm aus reiner Verzweiflung offenbart.
    Er hat sich meine unter Schluchzern hervorgestoßenen Worte schweigend angehört, ist aus dem Haus gegangen und eine halbe Stunde später mit der Hebamme zurückgekommen. Wochenbettdepression, lautet die Diagnose, die sie mir gestellt hat. Ich solle fleißig weiter

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