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Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Titel: Der Geschmack von Sommerregen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Leuze
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gute Tat.
    Oh Gott, so darf ich nicht denken! Ich darf mir das nicht vorstellen, darf es mir nicht so verführerisch ausmalen, sonst tue ich es am Ende tatsächlich … Es wäre eine Todsünde!!!
    Aber wäre es nicht doch auch eine Lösung?
    Wäre es nicht die Lösung für alles ?
    Mit Tränen in den Augen lege ich das dritte Tagebuch zur Seite. Hebe den Kopf. Sehe den traurigen Blick meiner Großmutter.
    Begreife es.
    Meine Zunge klebt an meinem Gaumen, als ich versuche zu sprechen. Ich will Anne fragen, ob mein grauenvoller Verdacht stimmt. Ich will unbedingt hören, dass ich mich irre. Doch meine Seele weiß längst, dass mein Verstand die richtigen Schlüsse gezogen hat.
    Und das Entsetzen raubt mir den Atem.

Einunddreißig
    Anne und ich laufen durch den schwülen Nachmittag. Ein Gewitter ist im Anzug, aber wir gehen trotzdem in den Hirschgarten, einen Park mit Gastronomie, wo ich etwas Warmes essen kann.
    Okay, der Grund für unseren kleinen Ausflug ist nicht das warme Essen.
    Der Grund ist, dass ich es nach dem, was meine Oma mir erzählt hat, nicht mehr in ihrer kleinen Wohnung ausgehalten habe. Ich hatte das Gefühl, Luft, Leben und Licht um mich herum zu brauchen, laufen zu müssen – den Schock irgendwo zu verarbeiten, wo wir auf neutralem Terrain sind.
    Und deshalb traben wir jetzt durch den Park, in der Hoffnung, dass die schwarzen Wolken über uns vorbeiziehen werden. Scheiße, schwarze Wolken hatten wir heute wirklich schon genug! Wenn auch nur in unseren Herzen.
    Anne schweigt, und mir ist das recht. Sie gibt mir Zeit, zu verdauen, was ich gehört habe. Sie drängt mich nicht, ihr umgehend zu verzeihen oder zu sagen, dass ich sie verstehe. Wie ich reagiere, überlässt sie mir. Es ist meine ureigene Entscheidung.
    Aber noch habe ich keine Ahnung, wie diese Entscheidung ausfallen wird. Wie reagiert man, wenn man erfahren hat, dass die eigene Oma als junge Frau nicht nur versucht hat, sich selbst umzubringen – sondern auch ihr Kind?
    Bärbel.
    Meine Mutter.
    Anne hat versucht, sie zu töten.
    Weil sie in ihrer Depression der festen Überzeugung gewesen war, dass der Tod für sie beide, Mutter und Kind, die beste Lösung sei. Das Entsetzen wallt wieder in mir auf, gallebitter und schmutzig.
    Wir erreichen den Biergarten, besorgen uns Bratwürstchen, knusprige Semmeln und Kraut. Bodenständiges Essen, nachdem es mir den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Als ob das irgendetwas nützen würde!
    Verrückterweise nützt es doch was. Mein Magen, leer und gequält von der Aufregung und den Nachwirkungen des Alkohols, zeigt sich äußerst dankbar für die Nahrungszufuhr, und als es mir körperlich besser geht, beruhigt sich auch meine Seele.
    Ich schaue meiner geduldig schweigenden Oma über den Biertisch hinweg in die Augen und spreche aus, was ich in der letzten Stunde ungefähr eine Million Mal gedacht habe: »Ich bin bloß froh, dass du es nicht geschafft hast.«
    Anne schluckt. »Ja. Ich auch. Weiß Gott, Sophie, ich auch.«
    »Warst du im Gefängnis deswegen?«, frage ich rau.
    Sie schüttelt den Kopf, fängt dann stockend an zu erzählen. »Ich hatte zur … Tatzeit … so schwere Depressionen, dass ich nur in die Psychiatrie gekommen bin. Für lange Zeit allerdings, es gab viel … aufzuarbeiten. Und als ich begriffen habe, was ich fast getan hätte – dass ich meine Tochter und mich mit Tabletten umgebracht, tatsächlich getötet hätte, wenn man uns nicht so schnell gefunden und uns beiden den Magen ausgepumpt hätte –, tja, als ich das begriffen habe, da ging es mir schlechter denn je. Kein Wunder, nicht wahr?«
    Ich sage nichts. Ich will Anne nicht trösten, nicht nach dem, was sie meiner Mutter angetan hat. Trotzdem kann ich nicht umhin, sie zu verstehen, und das verwirrt mich.
    Anne reibt sich mit der Hand über die Augen. »Dein Großvater hat sich sofort von mir scheiden lassen. Und Bärbel … Sie wollte mich nie wiedersehen, auch nicht, als sie ein junges Mädchen geworden war und ich aus der Psychiatrie entlassen wurde. Ich habe das akzeptiert, natürlich, aber ich habe die Hoffnung niemals aufgegeben, dass sie irgendwann einmal den Versuch machen würde, mich zu verstehen. Zu begreifen, wie es zu alldem kommen konnte. Ich habe ihr immer wieder geschrieben, weißt du. Habe ihr erklärt, wie ich mich gefühlt habe. Dass ich krank war vor Selbsthass … Dass es die Ablehnung meiner synästhetischen Veranlagung war, die mich krank gemacht hat. Aber Bärbel hat mir nie geantwortet. Und

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