Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
dass ich jetzt dir gegenübersitze, Sophie, dir, meiner Enkelin – das kommt mir vor wie ein Wunder. Wie ein Fingerzeig Gottes, dass er mir nach all der Zeit doch noch verziehen hat.«
Anne knetet ihre Hände und schaut in den Himmel, auf der Suche nach Gott oder Vergebung oder vielleicht auch nur, weil sie es nicht wagt, mir in die Augen zu blicken. Zart und zerbrechlich sieht sie aus, wie sie da auf der Bierbank sitzt, zusammengesunken unter der drückenden Last ihrer Schuld.
Und in diesem Moment fällt jede Unsicherheit von mir ab. Denn natürlich weiß ich, wie ich reagieren möchte!
Anne hat schon mehr als genug gebüßt. Sie hat gebüßt für eine Schuld, die keineswegs nur ihre eigene war – sondern auch die meines Großvaters, des Pfarrers, der Hebamme, all der selbstgerechten, ignoranten Menschen, die Anne in die Depression getrieben haben. Indem sie ihr weisgemacht haben, sie sei verrückt. Indem sie von ihr gefordert haben, sich zu verleugnen. Indem sie ihr Vorwürfe gemacht haben, weil Anne nun einmal ist, wie sie ist.
So wie ich nun einmal bin, wie ich bin.
Ich greife über den Tisch hinweg nach ihren Händen, spüre ihre weiche, alte Haut unter meinen Fingern. Ein Farbenchaos überflutet meinen inneren Monitor, kaum kann ich all die Gefühle und Schattierungen auseinanderhalten: wässerig-braune Schlieren, Milchkaffeebraun, frühlingszartes Grün und Elfenbein. Trauer über Annes verkorkstes Leben, grenzenloses Mitleid. Die wilde Hoffnung, dass es bei mir anders laufen wird, alles, weil ich in einer anderen Zeit geboren wurde, einer offeneren. Schwindelerregende Erleichterung, weil mein Farbensehen, wie Anne es ausdrückt, eine Gabe sein kann statt eines Fluchs. Tiefe Dankbarkeit dafür, dass Anne sich mir geöffnet hat, sogar auf das Risiko hin, dass ich sie danach hasse.
Aber von Hass bin ich weit entfernt. Und ich will, dass Anne das weiß.
Ich drücke ihre Hände, die regungslos auf dem Biertisch liegen, und sage mit belegter Stimme: »Wenn ich meine Mutter wäre, Anne, dann würde ich dir verzeihen. Hier und jetzt und absolut.«
Meine Großmutter schaut mich an. Ihre blauen Augen schwimmen in Tränen.
Doch dann lächelt sie, und da weiß ich, dass ich die richtigen Worte gefunden habe.
Gut gemacht, Sophie!, denke ich erleichtert und lächele zurück. Bis mir eine Frage durch den Kopf schießt, die auf einen Schlag jegliche Selbstzufriedenheit vertreibt.
Die Frage, ob ich auch bei Mattis die richtigen Worte finden werde.
Oder ob das verdammte YouTube-Video triumphieren wird, über welche Worte auch immer – weil ich Mattis schon längst verloren habe.
Zweiunddreißig
Es nieselt, als ich durch den stillen Sonntagmittag von der Bushaltestelle nach Hause laufe. Gut, dass Mama und Papa noch am Ammersee sind. Ich brauche Zeit, um mir zu überlegen, wie ich ihnen die große Neuigkeit am schonendsten beibringen kann. »Übrigens, ich fand Oma Anne total nett!« scheidet eher aus. »Übrigens, Oma gehört jetzt zu meinem Leben. Endlich habe ich jemanden, mit dem ich über meinen inneren Monitor reden kann!« wohl auch.
Aber ich habe ja eine Galgenfrist bis Montagabend. Bis dahin wird mir schon eine Gesprächsstrategie einfallen. Zu verheimlichen, was ich getan habe und wie viel sich für mich verändert hat, kommt nicht in Frage. Ich habe den ganzen Abend und die halbe Nacht mit Oma geredet, habe so viel erfahren, über sie, meine Mutter, die verschiedenen Formen der Synästhesie, über Vorurteile und Ängste, über Mut und Stolpersteine auf dem Lebensweg, dass ich nicht da weitermachen kann, wo meine Eltern und ich am Donnerstag aufgehört haben.
Ich liebe meine Eltern.
Und genau deshalb muss ich aufhören, mich vor ihnen zu verstellen.
Vor dem Gespräch mit Mama und Papa aber, denke ich und schlage den Kragen meiner Jacke gegen den Regen hoch, steht etwas anderes auf dem Plan, das Wichtigste überhaupt: Mattis.
Ich muss ihn zurückerobern, koste es, was es wolle. Denn wenn ich ihn verloren habe, wenn er mich nicht mehr liebt, wenn ich in Zukunft auf ihn verzichten muss, dann – was dann?
Ein Leben ohne Mattis kann ich mir nicht mehr vorstellen. Er und ich, das ist einfach richtig.
Ich hoffe nur, dass er das genauso sieht.
Tief in Gedanken versunken laufe ich am Haus der Landeggers vorbei. Erreiche unser Gartentor. Stoße es auf und … erstarre. Denn vor der Haustür, durch den Dachvorsprung notdürftig vorm Nieselregen geschützt, steht er .
Mattis.
Mit einem Gesichtsausdruck,
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