Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
stillen, mich um mein Kind kümmern und mich im Übrigen mit Hausarbeit und Spaziergängen ablenken. Dann würde sich früher oder später alles wieder einrenken.
Doch ich weiß, dass sie sich irrt. Ich habe es versucht, Gott ist mein Zeuge, aber ich komme einfach nicht dagegen an. Die Farben geistern in mir herum, sobald ich irgendetwas höre, sehe, schmecke, und sie sind stärker als ich, so viel stärker!
Manchmal frage ich mich, ob Xaver mir mit mehr Verständnis begegnen würde, wenn ich von Anfang an offen über meine Krankheit geredet hätte. Ob er mich trotzdem geheiratet hätte? Vielleicht wären wir glücklicher zusammen geworden, wenn ich nicht über so lange Zeit verschwiegen hätte, was in meiner Seele vor sich geht. Aber ich habe ja immer geglaubt, ich könne es überwinden!
Nun muss ich zugeben, dass dieser Glaube stirbt. Alles in mir stirbt: der Glaube, die Hoffnung, die Liebe. Sogar die Liebe zu meinem Mann und meinem Kind! Wenn das der Pfarrer wüsste. Und die Hebamme. Und der arme Xaver. Und ach, wenn ich nur wüsste, wie ich dieses langsame Sterben aufhalten kann …
Aber nirgends zeigt sich mir ein Ausweg.
*
Juli 1972
Liebes Tagebuch!
Alles ist mir zu viel.
Kaum kann ich mich dazu überwinden, diese Seite zu füllen. Noch weniger, die Puppenkleidchen zu nähen, die Bärbel sich so dringend wünscht. Oder einkaufen zu gehen – Xaver seine Abendmahlzeiten zu richten, so wie er es gewöhnt ist – ganz zu schweigen von den Pflichten des Ehebetts.
Xaver ärgert das natürlich. Heute Morgen hat er unwirsch gefragt, wann ich mich denn endlich von der elenden Depression berappeln würde. Aufs Wochenbett könne man meine Launen viereinhalb Jahre nach der Geburt ja wohl kaum mehr schieben. Aber lange mache er das ganze Theater nicht mehr mit, darauf könne ich Gift nehmen!
Ich konnte nichts antworten. Was hätte ich auch sagen sollen? Dass meine Schwermut nie etwas mit dem Wochenbett zu tun hatte, sondern allein meiner enttäuschten Hoffnung zuzuschreiben ist? Gesund hatte ich durch Bärbel werden wollen – noch kränker, verrückter, ungenügender bin ich geworden. Wer würde darüber nicht schwermütig werden?
Jetzt ist es neun Uhr abends, und Bärbel schläft. Gerade war ich bei ihr, und als ich sie so süß und rosig in ihrem Bettchen liegen sah, musste ich wieder weinen. Das arme, arme Kind. Was soll es nur mit einer Rabenmutter wie mir anfangen? Hätte ich Bärbel doch nie bekommen! Dann wäre sie nun nicht mit mir gestraft.
Obwohl es schon so spät ist, ist Xaver noch außer Haus. Ich fürchte, er bereut es zutiefst, dass er mich geheiratet hat: Nun ist er an eine Frau gekettet, die einfach nicht funktioniert und die weder ihn noch seine Tochter glücklich macht. Deshalb verbringt Xaver seine Abende im »Ochsen« beim Schafkopfspielen, statt zu mir nach Hause zu kommen.
Oder spielt er gar nicht Karten?
Hat er am Ende eine Liebschaft?
Gott möge verhüten, dass dem so ist. Aber wenn es wirklich so wäre, dann hätte ich es wohl verdient.
*
Mai 1976
Liebes Tagebuch!
Xaver hat schon wieder eine Liebschaft.
Ich weiß es, weil er nach ihr riecht. Wenn er heimkommt, dann verströmt er ihr Parfum, und er macht sich nicht einmal mehr die Mühe, es zu verbergen – zu duschen, bevor er zu mir ins Bett kriecht, oder es zu leugnen, wenn ich ihm meinen Verdacht an den Kopf werfe. Er schweigt einfach.
Ich bin ihm absolut gleichgültig geworden.
Wahrscheinlich bleibt er nur wegen Bärbel bei mir. Weil sich alle im Dorf das Maul zerreißen würden, wenn er mich mit unserem Mädchen sitzenlassen würde. Aber ist es so etwa besser?
Ist es besser, mit Xavers ständigen Affären zu leben? Mittlerweile weiß schon das ganze Dorf Bescheid. Bärbel wird in der Schule gehänselt, und ich ernte mal hämische, mal mitleidige Blicke, wenn ich mich zum Bäcker oder zum Metzger wage. Ach, es ist so demütigend – aber ich bin ja selbst schuld: Ich stehe Xaver im Weg, mache ihn unglücklich, schaffe es nicht, unsere Familie in Harmonie zu halten.
Ich müsste vom Erdboden verschwinden, dann wäre mein Mann frei.
Aber was wäre dann mit Bärbel?
Mitnehmen müsste ich sie, mitnehmen! So müsste mein geliebtes Kind nicht mit der Schande leben, und ich selbst hätte für immer selige Ruhe. Vor allem. Vor den verfluchten Eindrücken, die mein Verstand mir so beharrlich vorgaukelt, vor den Vorwürfen, vor dem Selbsthass. Und Xaver könnte neu anfangen, ohne mich.
Am Ende wäre es vielleicht sogar eine
Weitere Kostenlose Bücher