Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
Hätte ich denn im Internet etwas darüber finden können?«
»Natürlich.« Anne stellt das Tablett ab, verteilt Kekse und Getränke auf dem niedrigen Couchtisch. »Ich mache kein Geheimnis mehr aus meiner Synästhesie. Viele Künstler sind synästhetisch veranlagt, weißt du?«
Synäswasbitteschön?
Ich stehe wohl da wie der Ochs vorm Berg, denn Oma setzt sich zu mir aufs Sofa, reicht mir eine Apfelschorle und meint erstaunt: »Jetzt sag bloß, du hast noch wie was von Synästhesie gehört!«
»Korrekt«, murmele ich.
Sie schaut mich nachdenklich an. »Und wie kommst du dann darauf, dass es meine inneren Farben sind, die ich abbilde? Woher weißt du von der Existenz solcher Farben, Sophie?«
Mein Herz klopft stärker. Jetzt, denke ich. Jetzt sage ich es ihr. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich meine Besonderheit einem Menschen gestehen, der nicht mein Vater oder meine Mutter ist – und der mich nicht dafür verurteilen wird.
Denn auch wenn ich weit davon entfernt bin, die kreuz und quer durch meinen Kopf schießenden Gedanken zu einem sinnvollen Ganzen ordnen zu können, begreife ich doch eines: Anne und ich sprechen vom gleichen Phänomen. Nur dass sie es Synäsirgendwas nennt und ich meinen inneren Monitor.
Ich sehe Elfenbein vor mir und Schnee, zartrosa im Abendrot. Und die Worte kommen wie von selbst, als hätten sie nur darauf gewartet, endlich gesagt, endlich gehört zu werden.
»Ich habe die Farben in mir, schon immer. Sie fließen über einen Monitor, den ich genauso deutlich sehe wie dich, diese Wohnung, die Apfelschorle. Sie begleiten mich, seit ich denken kann, jedes meiner Gefühle hat eine andere Farbe, und auch die Strukturen sind verschieden, manche Farben sind flüssig, manche tropfen, manche kommen in Wellen, manche stechen und schmerzen. Meine Eltern wollen, dass ich sie unterdrücke, aber genauso gut könnten sie von mir verlangen, dass ich aufhöre zu riechen oder zu hören.« Ich hole tief Luft, schaue Anne in die großen, blauen Augen. »Und ich schätze, ich habe diese ganze verdammte Scheiße von dir geerbt.«
Anne schweigt einen Augenblick, und schon bereue ich meinen letzten Satz. Hätte ich mir den nicht verkneifen können?
Doch da sagt Anne: »Als Scheiße würde ich deine Synästhesie nicht bezeichnen, Sophie. Nicht nur, weil es kein schönes Wort ist, zumindest nicht in meinen altmodischen Ohren.« Sie lächelt leicht. »Sondern weil deine inneren Farben eine Gabe sind. Kein Fluch, Sophie, sondern eine Gabe! Und ich bin stolz, dass du sie von mir geerbt hast.«
Okay. Diese Sichtweise ist neu.
Als ich sie baff anstarre und schweige, legt Anne ihre zarte Hand auf meinen Unterarm. »Ich hätte mir gewünscht, mein Kind, dass du besser damit umgehen kannst als ich damals. Dass du dich informierst, das ist heutzutage doch so leicht! Früher, als ich jung war, da war es noch anders, da konnte einen so was tatsächlich in die Verzweiflung treiben, weil man ja nichts darüber wusste, aber heute …«
In meinem Kopf dreht sich ein Mühlrad, schleudert Annes Worte in die Luft, fängt sie wieder auf. Gabe statt Fluch. Informieren, ist doch so leicht. Stolz auf die Farben. Früher, da war es anders … Früher, zu Annes Zeiten.
Was ist damals passiert?
»Warst du in der Psychiatrie, Anne?«, sprudelt es aus mir heraus. »Wozu haben die Farben dich getrieben? Was hast du getan, dass meine Mutter dich so verabscheut?«
Anne bleibt ganz ruhig sitzen, ihre Hand immer noch auf meinem Unterarm. »Deine Eltern haben dir also nichts davon erzählt? Gar nichts?«
Ich lasse sie nicht aus den Augen, will kein Zittern, kein Ausweichen, keinen Hinweis auf die Wahrheit verpassen. »Nur Andeutungen. Sie sagen, dass du verrückt warst, dass du Dinge getan hast, die zu entsetzlich sind, als dass ich davon erfahren dürfte. Und dass ich meine Farben bekämpfen muss, weil ich sonst so werde wie du. Gefährlich. Eine Irre.«
Anne seufzt. »Mein armes, armes Kind«, sagt sie leise, und mit einem Mal weiß ich nicht, ob sie mich damit meint oder meine Mutter.
Dann schweigt sie.
Ich beobachte sie misstrauisch, sehe ihren in der Vergangenheit verlorenen Blick und denke, dass ich dieses erstickende Schweigen nur allzu gut kenne. Ich kenne es, und ich hasse es – und ich will nicht, dass es weiterhin mein Leben bestimmt.
»Erzähl es mir, Anne«, sage ich rau. »Dafür bin ich gekommen. Ich kann nicht mehr leben mit diesen Geheimnissen, mit den Lügen, alles geht daran kaputt, die Liebe, die
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