Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
Freundschaft, das Verhältnis zu meinen Eltern. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, was ich bin, oder was mir droht.« Meine Stimme bricht, ich flehe meine Oma an und ich schäme mich nicht einmal dafür. »Du bist die Einzige, die mir helfen kann. Sag mir, was es mit dieser Synäsdingsda auf sich hat. Und was du getan hast, damals. Als Mama ein Kind war.«
Anne richtet ihren verlorenen Blick auf mich. Dann steht sie auf.
Ich schaue zu ihr hoch. Begreife, was ihr Aufstehen bedeutet, und bin wie betäubt vor bleigrauer Enttäuschung: Meine Großmutter, auf die ich so große Hoffnungen gesetzt hatte, verweigert mir die Antwort. Genau wie Mama und wie Papa. Anne ist kein Stück besser. Und ich habe keine Ahnung, wie ich mit diesem Rückschlag umgehen soll.
»Warte hier«, sagt Anne in mein Bleigrau hinein. »Ich will, dass du es wirklich verstehst. Du musst fühlen, was ich gefühlt habe. Und dafür muss ich … etwas holen. Ich habe dich gerade erst gefunden, Sophie, ich könnte es nicht ertragen, dass du mich hasst, weil du mich nicht verstehst.«
Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag durchflutet mich zartgrüne Erleichterung: Meine Großmutter stößt mich nicht zurück, ich brauche die Hoffnung auf Antworten nicht aufzugeben! Das Mühlrad in meinem Kopf beginnt wieder sich zu drehen: Was will Anne holen? Was hat sie vor? Wie möchte sie mir helfen, sie und ihre Tat zu verstehen?
Oh Mann, ein zweiter Sherlock Holmes bin ich heute nicht gerade.
Zappelig bleibe ich auf dem Sofa sitzen, höre Anne im Schlafzimmer rumoren. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt sie zu mir zurück, eine Kiste in den Armen, und ich mache mich schon auf alte Briefe wie die in Mamas Karton gefasst, als Anne die Kiste auf dem Teppichboden abstellt und sagt: »Hier sind sie. Du darfst sie alle lesen.«
»Was ist das?«
Ihre bekümmerten blauen Augen suchen meinen Blick. »Meine Tagebücher, Sophie.«
Dreißig
Der Beweis, wie sehr meine Großmutter mir vertraut, haut mich um.
Zwar kenne ich niemanden, der Tagebuch schreibt, aber mir ist klar, dass es das Privateste ist, was man besitzen kann. Und mir, einer Fremden, gewährt Anne nicht nur einen flüchtigen Blick in ihre Geheimnisse – nein, ich darf lesen, was und soviel ich will!
Es ist unglaublich.
Es ist meine große Chance.
Und verdammt, es überfordert mich.
Mein Blick gleitet über die schmalen, bunten Bände, die ordentlich gestapelt in der Kiste liegen. Wie soll ich es schaffen, mich durch ganze Jahrzehnte eines fremden Lebens zu lesen? Ich muss doch spätestens morgen wieder nach Hause fahren! Aber ich will, ich brauche Antworten … Und hier liegen sie. Versteckt, aber bereit, gefunden zu werden. Eingestreut in Hunderte von Tagebuchseiten. Oder sind es Tausende?
Anne sieht mir wohl an, wie ich mich fühle, denn sie lässt sich neben mich aufs Sofa sinken und sagt: »Ich helfe dir, wenn du willst. Ich suche dir die einzelnen Einträge raus, ja? Nur die wichtigsten, die kannst du dann lesen. Du brauchst schließlich nicht zu wissen, wie es mir als Kind erging oder bei meiner Hochzeit, für dich ist nur von Bedeutung, wie es dazu kommen konnte, dass ich … Dass ich das getan habe, was deine Mutter mir nicht verzeiht. Zu Recht.«
Sie sagt es ganz nüchtern, aber ich erkenne an der Trauer in ihren Augen, dass die Wunde, obgleich so alt, noch lange nicht verheilt ist, vielleicht nie verheilen wird. Und dass sie in diesem Moment, durch meine Anwesenheit, meine Suche nach der Wahrheit, mit aller Brutalität wieder aufgerissen wird. Aber Anne stellt sich dem Schmerz – um mir zu helfen.
»Danke«, bringe ich unbeholfen hervor und wünsche mir, es gäbe ein stärkeres Wort dafür. Aufmalen könnte ich meine Dankbarkeit, in intensiven, milchkaffeebraunen Klecksen, aber vielleicht bedeutet diese Farbe für Anne ja etwas ganz anderes. Wer weiß schon, wie sehr sich die Innenwelten von Menschen wie uns unterscheiden?
Meine Großmutter holt bedächtig einen Band nach dem anderen aus der Kiste. Legt sie auf den Couchtisch neben die Kekse, sucht nach den richtigen Jahreszahlen, die auf den Einbänden vermerkt sind, und legt schließlich den Großteil der Kladden zurück in die Kiste. Drei Tagebücher bleiben übrig. Eins gelb, eins grün, eins grau.
Anne greift nach dem gelben. » 1967 , das Jahr, in dem deine Mutter geboren wurde«, sagt sie. »Damit fangen wir an.«
Die Wehmut in ihrer Stimme zieht mir das Herz zusammen.
Beklommen schaue ich meiner Großmutter zu, wie sie
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