Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
ungeschoren davonkommen lasse.«
»Du baust aber keinen Mist, ja?«, sage ich besorgt.
»Kommt darauf an, was du unter Mist verstehst«, antwortet Mattis.
Vierunddreißig
Lena macht es mir nicht so leicht wie mein Freund.
Ich treffe sie in unserem Tannenversteck, gleich nachdem Mattis gegangen ist. Fest entschlossen, auch ihr die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, lege ich los und erzähle ihr alles . Doch anstatt mir danach erleichtert die Absolution zu erteilen, wird Lena megawütend.
»Ich bin deine allerbeste Freundin, Sophie!«, zischt sie. »Und da hast du wirklich geglaubt, ich würde dich zum Psychiater schicken und mich angeekelt von dir abwenden? Bloß weil du Farben siehst?!«
Bloß?
»Ich habe es nicht geglaubt«, sage ich verunsichert. »Nur befürchtet. Das ist ein Unterschied, Lena.«
»Ach ja? Für feine Unterschiede bin ich aber nicht zu haben, wenn es darum geht, dass du mir die ganzen Jahre über so was von null vertraut hast!«
»Aber Lena, so ist das doch nicht, ich habe doch nur –«
»Klar ist das so! Genau so! Weißt du eigentlich, wie viele Gedanken ich mir über dich gemacht hab in den letzten Wochen? Ich habe weiß Gott was vermutet, als du so unglücklich gewirkt hast, obwohl du mit deinem Traumtypen zusammen warst.« Lena sieht aus, als wüsste sie nicht, ob sie heulen oder schreien soll. »Ich hatte Angst, dass Mattis zweigleisig fährt und doch noch eine Freundin in München hat, und dass du das weißt. Oder dass er pervers ist und irgendwelche kranken Spielchen mit dir treibt, auf die du dich einlässt, weil du so irre verknallt in ihn bist. Oder dass deine Eltern sich scheiden lassen, dass du angefangen hast, Drogen zu nehmen, dass Noah was gegen dich in der Hand hat, vor allem, als ich euch auf dem YouTube-Video gesehen habe, oder –«
»Lena!«, unterbreche ich sie geschockt. »Warum hast du mich denn nicht auf all das angesprochen? Ich hätte dir doch gesagt, dass nichts davon –«
»Bullshit, nichts hättest du mir gesagt«, fährt Lena mir über den Mund. »Kein verdammtes Wort.«
Ich starre sie an, als sie aufspringt und mit blitzenden Augen auf mich runterguckt. Das Ganze kommt mir vor wie ein Déjà-vu, und in diesem Augenblick weiß ich, dass Lena recht hat: Sie hat mich gefragt, vor zwei Wochen, hier in unserem Tannenversteck. Und ich, ich habe gesagt, dass alles okay sei. Obwohl gar nichts okay war.
»Aber … jetzt«, verteidige ich mich schwach. »Jetzt habe ich es dir erzählt. Ich war davor halt noch nicht so weit.«
»Jetzt ist es aber zu spät«, sagt Lena hart. »Ich fühle mich nämlich ganz schön verarscht!«
Damit rauscht sie aus dem Tannenversteck, und als ich aufspringe und ihr nachrenne, schlägt sie mir die Terrassentür vor der Nase zu.
Später geht sie nicht ans Telefon.
Antwortet nicht auf meine SMS .
Ignoriert mich vollkommen.
Und gibt mir damit einen bitteren Vorgeschmack darauf, wie sich das Leben ohne beste Freundin anfühlen wird: verdammt leer.
Als ich am nächsten Morgen allein den Schulhof überquere, fangen die ersten Mädels bereits an zu tuscheln. Eine Neuntklässlerin zeigt kichernd in meine Richtung, ein Junge wackelt anzüglich mit den Augenbrauen. Na super, mein vermeintliches Schlampen-Video ist also tatsächlich bis in den letzten Winkel vorgedrungen. Viv hat ganze Arbeit geleistet.
Aber obwohl sich diese Erkenntnis scheiße anfühlt, obwohl ich mich schäme und Vivian für ihre Niedertracht verfluche, wäre all das zu ertragen. Ich könnte damit fertig werden. Könnte das Kinn heben, die Schultern durchdrücken und sie alle ignorieren. Wenn nur die, die ich wirklich liebe, zu mir halten und mir verzeihen würden.
Mattis hat das getan.
Lena nicht.
Mit einem Kloß im Hals denke ich daran, wie ich gestern Abend einen weiteren sinnlosen Versuch gemacht habe, unsere Freundschaft zu retten. Ich habe Lena einen Brief geschrieben – einen richtigen, altmodischen Brief –, in dem ich mich für mein Misstrauen ihr gegenüber entschuldigt habe. Ich habe ihr meine Angst geschildert, meine Irrtümer, meine Zweifel an mir selbst und an der ganzen Welt. Menschen machen Fehler, habe ich geschrieben, und auch ich habe Fehler gemacht. Aber ich hoffe, hoffe so sehr, dass sie mir meinen Fehler verzeiht!
Ob ich damit zu ihr durchgedrungen bin?
Den Brief habe ich heute Morgen durch den Briefschlitz neben der Haustür gesteckt, sodass er auf der Morgenzeitung zu liegen kam. Wenn ich Glück habe, hat sie ihn schon
Weitere Kostenlose Bücher