Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
gelesen. Wenn ich Pech habe, hat sie ihn ins Altpapier geworfen.
Ich laufe die Treppe in den ersten Stock hoch, und meine Gedanken sind so von Lena, unserer zerbrechenden Freundschaft, meiner Reue und meiner Hoffnung in Anspruch genommen, dass ich Vivian erst sehe, als ich ins Klassenzimmer gehen will und sie mir in ihrer ganzen Pracht den Weg versperrt.
»Na, Sophie?«, fragt sie mit einem fiesen Lächeln, das ihre perfekten, weißen Zähne entblößt. »Schönes Wochenende gehabt?«
Sie drückt den Busen vor, der heute in einem schwarzen Push-up steckt, den man unter dem knappen, cremefarbenen Top deutlich sehen kann. Zusammen mit ihrem Lächeln und dem arroganten Blick macht diese Pose klar, was Vivian mir sagen will: So sehen Sieger aus.
Und Verlierer, die sehen aus wie ich.
Ich brauche einige Sekunden, bis ich es geschafft habe, Lena aus meinem Bewusstsein zu schieben und mich der aktuellen Herausforderung zu stellen. Okay, sage ich mir nervös, es ist so weit. Ich muss Vivian klarmachen, dass ich die Rolle des Losers nicht annehmen werde. Schlagfertig muss ich jetzt sein, cool und ungerührt!
Aber leider nützt es gar nichts, mir das einzuhämmern: Mein Gehirn ist wie leergefegt. Ich atme tief durch und ringe krampfhaft um eine lässige Antwort, als sich ein starker Arm um meine Schultern legt.
»Hey«, raunt Mattis in mein Ohr, und mein Herz macht vor Liebe und Erleichterung einen Sprung. Wir schauen uns in die Augen. Mattis lächelt mich an.
Dann fragt er mich laut: »Du hast doch nicht etwa Lust, dich mit der zu unterhalten, oder?« Sein Blick wandert von mir zu Vivian und kühlt dabei um etliche Grade ab. »Nein? Dachte ich’s mir doch. Dann würde ich vorschlagen, du verpisst dich, Vivian. Und zwar sofort.«
Vivians Lächeln verschwindet, und sie glotzt Mattis an wie eine Mondkuh. Wahrscheinlich hat ihr in ihrem ganzen Leben noch kein Junge gesagt, sie solle sich verpissen. Tja, es gibt eben für alles ein erstes Mal.
Als Vivian begriffen hat, dass Mattis und ich trotz des bloßstellenden Videos nach wie vor ein Paar sind, findet sie endlich ihre Sprache wieder. »Aber ihr, äh, Mattis, du und Sophie, warum …«
Mattis verdreht die Augen und wendet sich von der stotternden Vivian ab, als sei sie es nicht wert, dass wir uns auch nur eine Sekunde lang mit ihr abgeben.
Dann lassen wir sie stehen.
Wir schlendern an der Oberzicke vorbei in die Klasse, und die ganze Zeit über liegt Mattis’ Arm fest um meine Schultern.
Das, denke ich, wäre ein sehr schönes Gefühl.
Wenn uns nur nicht alle anstarren würden.
Mattis scheint ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf zu gehen, denn er bleibt mitten im Raum stehen. »Ist was?«, fragt er in die Runde, so eisig, dass jegliches Getuschel abrupt verstummt.
Ich werfe ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. Mattis’ Kiefer ist hart, der Blick, den er langsam vom einen zum anderen schweifen lässt, zum Fürchten. Mattis’ Beschützerinstinkt hat sich zu ungeahnten Höhen aufgeschwungen, und alle hier spüren das: Obwohl er nicht schreit, nicht tobt und niemanden angreift, strahlt er Wellen von Aggression aus, unter denen sich auch der Letzte im Raum instinktiv duckt. Mattis ist bereit, mich zu verteidigen – gegen wen und auf welche Art auch immer.
Ein paar der Mädchen schauen betreten weg. Irgendjemand nuschelt: »Cool bleiben, Mann, ist doch alles okay.« Keiner wagt es mehr, mich spöttisch anzugrinsen, niemand schlägt sich auf Vivians Seite.
Hey, war sie nicht immer die Queen? Wo ist ihr Gefolge?
Ich habe meine Verblüffung noch kaum verdaut, als Mattis in die angespannte Stille hinein sagt: »Ah. Da kommt er ja.«
Sämtliche Blicke fliegen zur Tür.
Dort steht immer noch völlig belämmert Vivian, doch nicht sie ist es, auf die sich Mattis’ Aufmerksamkeit sowie die Neugier der anderen richten.
Es ist Noah.
Noah, der ins Klassenzimmer schleicht und dabei unsicher in unsere Richtung schielt.
Ich begegne seinem Blick, dem heute jegliche Großspurigkeit fehlt, und in diesem Moment begreife ich zwei Dinge: Erstens, dass Mattis gestern Abend einen kleinen Umweg gemacht hat, bevor er heimgegangen ist. Und zweitens, dass muskulöse Arme und ein durchtrainierter Körper nicht nur beim Bogenschießen und Schwimmen von Vorteil sind.
Um Noahs rechtes Auge blüht ein filmreifes Veilchen. Sein Kinn und die linke Gesichtshälfte sind zerschrammt, so, als sei er im Kampf zu Boden gedrückt worden – von jemandem, der sehr, sehr sauer darüber war,
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