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Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Titel: Der Geschmack von Sommerregen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Leuze
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inneren Monitor.«
    Komisch, weht es durch meinen Kopf, ich sollte jetzt doch eigentlich Angst haben! Vor Panik hyperventilieren, weil ich zugebe, was ich immer verborgen habe. Aber da ist keine Angst mehr. Nur eine ruhige Akzeptanz meiner selbst, gepaart mit mildem Erstaunen darüber, dass ich mein Leben lang gedacht habe, ich sei verrückt. Dabei bin ich einfach bloß synästhetisch veranlagt, so wie Mattis hochsensibel ist. Wie Lena zu Übergewicht neigt. Wie Fabian extrem intelligent ist. Das Farbensehen ist eine Besonderheit unter vielen, und ich kann es verleugnen – oder das Beste daraus machen. Gabe oder Fluch: Was von beidem mein innerer Monitor für mich ist, liegt allein bei mir. Bei niemandem sonst.
    Ich schaue zu Mattis hoch, warte auf seine Reaktion.
    »Ähm, Sophie … Ich begreife das nicht so richtig«, gibt er zu, ohne den Blick von seinem blaugoldenen Gegenstück auf dem Bildschirm zu wenden. »Was meinst du damit, du siehst diese Farben? Ich meine, siehst du mich wirklich … blau? «
    Ich muss lachen. »Natürlich nicht. Es ist nicht dein Körper, der blau ist, sondern mein Gefühl, wenn ich dich … ähm, begehre.«
    Mattis zieht die Augenbrauen hoch. »Jetzt wird es interessant.«
    Ich boxe mit der Faust leicht gegen seinen Arm. »Typisch Junge. Immer nur das eine im Kopf!«
    »Ach ja?«
    Mattis beugt sich zu mir runter, umfasst mit der Hand mein Kinn und küsst mich. Und wie er mich küsst! Sanft streicht seine Zunge über meine Lippen, spielt mit mir, öffnet mich. Dringt in meinen Mund ein. Nimmt voraus, was wir zusammen tun möchten.
    Unwillkürlich atme ich schneller, und jetzt bin ich es, die nur noch das eine im Kopf hat.
    Doch da beendet Mattis den Kuss und sagt: »Von wegen typisch Junge. Was es mit dieser Farbengeschichte auf sich hat, interessiert mich wirklich. Erklärst du’s mir?«
    »Jetzt sofort?«, flüstere ich und denke an Sex, Sex, Sex.
    »Jetzt sofort«, flüstert Mattis zurück und grinst.
    Später stehen wir in der Küche, lehnen an der Arbeitsplatte und schieben uns das letzte Stück Salami-Pizza in den Mund – das Einzige, was die Tiefkühltruhe hergegeben hat. Reden macht hungrig, zuhören auch, wie uns beiden aufgefallen ist, nachdem wir sämtliche Aspekte meiner Synästhesie beleuchtet hatten. Und die unerfreuliche Geschichte zwischen mir und Noah auch.
    Ich habe Mattis nichts verschwiegen, nicht das kleinste Detail. Alles habe ich ihm offenbart: Was ich auf meinem inneren Monitor sehe, wenn ich etwas fühle. Welche Schuldgefühle ich immer deswegen hatte. Dass erst Oma Anne mich von ihnen befreit hat. Was Anne getan hat und dass ich, auch wenn es eine grauenvolle Tat war, nachvollziehen kann, wie es dazu kommen konnte. Ich erzähle Mattis von meinem neuen Selbstrespekt, von meiner Neugier darauf, wohin mich die Akzeptanz meiner Farben wohl führen wird. Von meinem Unbehagen, wenn ich daran denke, wie meine Eltern reagieren werden. Meiner Furcht, dass Mama ausflippt, wenn sie erfährt, dass ich mit ihrer Beinahe-Mörderin nicht nur gesprochen, sondern sogar unter ihrem Dach geschlafen habe.
    Auch das, was Synästhesie eigentlich ist, was die Wissenschaft darüber weiß, wo im Kopf sie ihren Ursprung hat, habe ich Mattis erklärt. Na ja, so gut ich das eben konnte. Ich weiß noch längst nicht alles über meine Veranlagung, eigentlich nur das, was Oma Anne mir erzählt hat. Aber ich bin fest entschlossen, mir Bücher über Synästhesie zu kaufen, im Internet zu forschen, vielleicht sogar Kontakt zu anderen Synästhetikern aufzunehmen. Vorerst allerdings reicht es Mattis und mir zu wissen, dass Synästhesie genauso wenig eine Krankheit ist wie Hochsensibilität. Sondern einfach eine Vernetzung im Gehirn, die Verknüpfung zweier Sinne – sodass man zum Beispiel Töne schmecken kann, so unglaublich das auch klingen mag. Ich habe es Mattis aus dem Duden vorgelesen: » Sy/n/äs/the/s ie , Miterregung eines Sinnesorgans bei Reizung eines andern«.
    So knapp, so sachlich.
    So wenig bedrohlich.
    Und doch so unzureichend, wenn man weiß, wie sich das Ganze in der Wirklichkeit anfühlt. Vor allem, weil es nicht ausgeschaltet werden kann, sondern automatisch passiert, ob ich das nun will oder nicht.
    »Bei dir«, fragt Mattis jetzt nachdenklich und trinkt einen Schluck Cola, »wird aber doch gar kein Sinnesorgan gereizt. Du siehst die Farben ja nicht, wenn du etwas hörst oder riechst, sondern wenn du ein starkes Gefühl hast.«
    Er klingt verwirrt, und ich kann es ihm nicht

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