Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
bevorsteht.
Lena.
Mit verquollenen Augen kommt sie reingestapft. Ungefragt erzählt sie unserem Bio-Lehrer irgendwas von familiären Problemen, womit sie nicht nur einen Eintrag ins Klassenbuch abwendet, sondern auch Herrn Müfflingens üblichen Vortrag darüber, dass man es im Leben nur mit Pünktlichkeit zu etwas bringen kann.
Dann kommt sie auf mich zu und lässt sich wortlos neben mir auf ihren Stuhl fallen.
Ich schiele zu ihr rüber. Sind Lenas Augen so verquollen, weil sie geweint hat? Meinetwegen? Hat sie meinen Brief gelesen? Wird sie mir verzeihen – oder nicht? Oder hat sie wirklich familiäre Probleme? Dann, denke ich sofort, werde ich ihr beistehen! Lena soll sich nicht einsam und verlassen fühlen. Sie soll niemals spüren, was ich gespürt habe, wenn das Silbergrau mich umhüllt hat. Hoffentlich, schießt es mir durch den Kopf, will sie meine Hilfe überhaupt, hoffentlich hat sie sich nicht dafür entschieden, ganz allein das alles … Meine konfusen Gedanken werden durch ihre warme Hand gestoppt, die unter dem Tisch nach meiner greift.
»Ich hab ein bisschen gebraucht, um das alles zu verdauen«, flüstert sie mir zu. »So bin ich halt, du kennst mich ja. Bin auch nicht perfekt. Verzeihst du mir?«
»Ich? Dir?«, flüstere ich überrascht zurück.
»Ja, du mir. So wie ich dir.« Lena drückt meine Hand. »Mann, ich hab Rotz und Wasser geheult, als ich deinen Brief gelesen habe!«
Zartgrüne Erleichterung überflutet meinen inneren Monitor. Um nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen, sage ich flapsig: »Ist nicht zu übersehen. Soll ich dir meinen Concealer leihen?«
Und dann grinsen wir uns an, und auch meine letzte Hirnwindung begreift es: Lena verzeiht mir! Ich habe sie nicht verloren. Sie hält mich nicht für seltsam. Und ich, ich werde ihr von nun an vertrauen, komme, was da wolle.
Milchkaffeebraun, dunkelrot und elfenbeinweiß wallen die Gefühle in mir auf, als mir klar wird, was das für mich bedeutet.
Meine verhassten, silbergrauen Tropfen sind Vergangenheit.
»Her mit dem Concealer«, sagt Lena, und vor Glück über unsere neu gefundene Freundschaft müssen wir beide lachen. Wir giggeln und kichern wie zwei Elfjährige, können gar nicht mehr damit aufhören.
Was mir prompt den zweiten Eintrag ins Klassenbuch beschert.
Fünfunddreißig
»Hallo-ho! Wir sind wieder da-ha!«
Es ist Montagabend. Ich gehe langsam die Treppe runter, der fröhlichen Stimme meiner Mutter entgegen. Mama steht im Wohnzimmer, Tasche und Beautycase noch in den Händen.
Sie strahlt mich an. »Ach, meine Kleine, es ist so schön, dich wiederzusehen!«
Gleich zwei Fehler in einem Satz, denke ich, während ich mich zu einem Willkommenslächeln zwinge. Erstens: Ich bin nicht mehr klein. Zweitens: Ob es schön für Mama ist, mich wiederzusehen, bleibt abzuwarten. Schließlich habe ich meinen Eltern nicht nur zwei brandneue Einträge ins Klassenbuch zu gestehen – das kann warten oder vielleicht auch unter den Tisch fallen –, sondern etwas viel Wichtigeres: einen Kurztrip nach München. Einen, der an Mamas schlimmste Erinnerungen rührt. Heute noch werde ich meinen Eltern davon erzählen und damit das große Tabu brechen, ein für alle Mal. Ich warte nur noch den passenden Zeitpunkt ab.
Shit, woran erkenne ich den überhaupt?!
Ich kämpfe meine beige Unsicherheit nieder. Lasse mich von Mama umarmen, spiele ein letztes Mal meine alte Rolle. Und spüre sofort, dass ich ihr unwiderruflich entwachsen bin. Seltsam, wie genau man es weiß, wenn etwas zu Ende geht.
Ich schlinge die Arme um Mama, atme ihren Lavendelduft ein und schließe für einen Moment die Augen. Unwillkürlich denke ich daran, was Oma Anne gesagt hat, irgendwann im Laufe unserer langen Samstagnacht: Dass Mama offensichtlich das Gefühl habe, der Halt, den die Familie ihr gegeben hat, bräche weg, wenn ich mich von ihr löse. Deshalb sei Mama so gehässig, wenn es um mich und Mattis gehe. Oma hat gesagt, in abgeschwächter Form würden viele Mütter solche Gefühle durchleben. Bei Mama mit ihren traumatischen Erinnerungen sei das eben alles noch extremer. Schwieriger.
Ich umarme Mama fester, frage mich, wer ihr wohl helfen kann. Papa traue ich das nicht mehr zu, denn der hat ja letzte Woche was Ähnliches vermutet wie Oma Anne, und als Ausweg ist ihm nichts eingefallen als ein Wellness-Wochenende.
»Du bist aber anhänglich«, sagt Mama und lacht. »Hatte Mattis keine Zeit für dich?«
Ich atme tief durch, weiß nicht, wo ich anfangen
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