Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
verdenken. Synästhesien sind für andere Menschen schwer nachvollziehbar, und bei so was Abgefahrenem wie meiner Gefühlssynästhesie gilt das doppelt und dreifach.
»Das bei mir ist eine Unterform«, wiederhole ich, was Oma Anne mir gestern Abend erklärt hat. »Bei mir sind es nicht Außenreize, die den zweiten Sinn aktivieren, sondern einzig und allein meine Empfindungen. Deshalb sehe ich die Farben auf meinem inneren Monitor auch nie hundertprozentig gleich. Weil meine Gefühle ja auch nie hundertprozentig gleich sind.«
Mattis runzelt die Stirn. »Ich bin also nicht immer gleich blau?«
»Nein. Zu Anfang warst du himmelblau. Dann ist das Blau irgendwie tintig geworden. Und jetzt ist es so intensiv, dass es fast schwarz ist. Also jedenfalls, wenn wir zusammen … äh …« Ich breche ab, grinse verlegen.
»Schon kapiert.« Mattis grinst auch. Er stellt sich dicht vor mich und legt seine Hände auf meine Hüften. »Und das Gold? Wofür steht das?«
Ich schaue auf seinen Mund und sage: »Dreimal darfst du raten, Mattis.«
»Ich glaube, einmal raten reicht«, sagt er leise und beugt sich zu mir runter.
Der Rest des Nachmittags vergeht wie im Flug. Mattis ist so fasziniert von meinen inneren Farben, dass er gar nicht damit aufhören kann, mich auszufragen. »Ich wusste ja von Anfang an, dass du etwas Besonderes bist«, sagt er mehr als einmal, und in seiner Stimme schwingt so viel Stolz auf mich mit, dass ich vor Rührung seufzen könnte.
Aber statt zu seufzen, werde ich gezwungenermaßen kreativ. Mattis hat es sich nämlich in den Kopf gesetzt, meine inneren Farben sehen zu wollen. Und deshalb schlage ich ihm vor, dass er mir helfen darf, meine Idee vom Donnerstagabend umzusetzen: kleine Farbgefühl-Kunstwerke zu erschaffen, indem ich weitere Fotos synästhetisch verändere.
Nachdem Mattis mir versprochen hat, über die Kunst auch das Küssen nicht zu vergessen, fangen wir an. Das erste Gefühl ist schnell gefunden: Liebe. Wir wählen ein mit Selbstauslöser geknipstes Bild von Mattis und mir und färben es komplett in glänzendem Gold ein. Schwieriger wird es dann schon bei Glück. Die Farbe ist klar, ein flauschiges Weinrot – aber wie soll das Symbol dazu aussehen? Nach längerer Diskussion entscheiden wir uns für ein Foto mit einem lachenden Kind. Und so nehmen wir uns eine Emotion nach der anderen vor, die schönen Gefühle ebenso wie die schlimmen, meine wie seine.
In diesen Stunden erfahren Mattis und ich mehr übereinander als je zuvor. Erst zögernd, dann immer vertrauensvoller erzählen wir uns all die kleinen Geschichten, die wir mit Angst und Freude, Sehnsucht und Zorn verbinden. Wir gestehen uns erträumte Siege und erlebte Niederlagen, bittere Selbstzweifel und schwebende Glücksmomente, und immer wieder versichern wir uns dabei gegenseitig unserer Liebe, so als böte nur sie uns Schutz. Schutz davor, verletzt zu werden, während unsere Seelen voreinander bloßliegen. Aber nichts Verletzendes geschieht, nur unsere Liebe wächst, während am Mac ein Kunstfoto nach dem anderen entsteht.
Erst als Mattis’ Handy klingelt und eine aufgebrachte Nathalie wissen will, wo zum Teufel er stecke, ob ihm klar sei, dass er den ganzen Tag lang nichts von sich habe hören lassen und ob der Herr auch irgendwann mal heimzukommen gedenke, hat die Welt um uns herum uns wieder.
»Ich sollte wohl besser nach Hause, bevor meine Mutter völlig ausflippt.« Mattis verzieht das Gesicht und lässt das Handy sinken. »Wolltest du nicht sowieso noch zu Lena?«
»Doch, unbedingt.« Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Schon achtzehn Uhr. Das heißt, ich muss mich beeilen, wenn ich heute noch reinen Tisch machen möchte.
»Wenn ich Lena nicht an meiner Seite weiß, kann ich mich unmöglich der Meute stellen«, sage ich unbehaglich. »Bestimmt haben alle das Video gesehen. Au Mann, das wird so furchtbar peinlich morgen!«
Mattis’ Blick wird grimmig. »Du hast mich an deiner Seite. Und der Meute werden wir es schon zeigen, verlass dich drauf.«
In einer beschützenden Geste zieht er mich an sich, und ich schlinge die Arme um seinen Hals. »Du hast recht. Ich schaffe das. Wenn du mich nur liebst, kann ich es mit der ganzen Welt aufnehmen.«
Er drückt mich fest an seine Brust. »Nimm du meinetwegen die ganze Welt. Aber Noah überlässt du mir.«
Oha, das klingt nicht gut. »Wie war das denn jetzt gemeint?«
»Dass ich den Kerl, der dich erniedrigt, beleidigt und belästigt hat, ganz bestimmt nicht
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