Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
soll, wenn es um dieses Wochenende geht. »Doch«, sage ich schließlich, »am Sonntag.«
Was immerhin nicht gelogen ist, auch wenn die Wahrheit ein bisschen komplizierter ist.
Mein Vater trampelt ins Wohnzimmer, lässt den Koffer auf den Boden fallen und breitet die Arme aus. »Sophie, Mäuslein, da sind wir wieder! Na, was hast du erlebt? Ich hoffe, du warst schön brav?«
Bei den letzten Worten zwinkert er mir zu, die Frage war rein rhetorisch gemeint. Die Sophie, die Papa zu kennen glaubt, ist schließlich immer brav.
Papas Traum-Sophie hätte sich niemals betrunken. Sie hätte sich nicht gegen aufdringliche Kerle wehren müssen, und sie wäre auch nicht in einer zweideutigen Situation auf YouTube zu sehen. Vor allem aber wäre sie auf gar keinen Fall nach München gefahren, um eigenmächtig dunkle Familiengeheimnisse aufzudecken.
Tja. Willkommen in der Wirklichkeit, Papa.
Die nächste Stunde vergeht im Schneckentempo.
Zappelig schaue ich meinen Eltern zu, wie sie auspacken, lausche mit halbem Ohr ihrem Geplauder – das sich hauptsächlich um schreckliche Tischnachbarn, freundliche Masseusen und die herrliche Landschaft dreht – und werde dabei immer ungeduldiger. Sehen sie denn nicht all das Ungesagte, das sich zwischen uns auftürmt? Spüren sie nicht, dass ich mich verändert habe? Ich werde immer kribbeliger, immer ungehaltener darüber, dass sie mir nichts anmerken, und beim Abendessen halte ich es schließlich nicht mehr aus. Meine Mutter fragt: »Hast du dir auch was Anständiges gekocht, als wir weg waren?«, und ich sage: »Ja. Und, Mama, ich war bei Oma Anne.«
Stille.
Ich halte die Luft an, warte auf eine Reaktion.
»Das ist nicht lustig, Sophie«, sagt mein Vater endlich scharf.
»Soll es auch nicht sein.«
Ich presse meine Fingernägel in die Handflächen. Wie erwartet ist jede Fröhlichkeit dahin, die heitere Wetterlage am Tisch ist abrupt ins Frostige gekippt.
Ich bemühe mich, jedes Zittern aus meiner Stimme rauszuhalten, als ich sage: »Wir müssen reden. Über das, was hier unter den Teppich gekehrt wird. Das ist nämlich ganz schön viel.«
Meine Eltern starren mich an, als sei ich ein Alien. Keiner sagt etwas. Ich werde unsicher. Ich meine, könnten sie mir nicht ein bisschen entgegenkommen?
Mit dem Mut der Verzweiflung suche ich den Blick meiner Mutter. »Ich kenne jetzt deine Geschichte, Mama. Anne hat sie mir erzählt. Es ist schrecklich, was passiert ist, und ich verstehe absolut, dass du mich damit verschonen wolltest. Aber, Mama«, ich greife über den Tisch nach ihrer Hand, kalt ist sie und regungslos, »das alles ist vorbei. Es ist lange, lange vorbei. Anne ist nicht mehr der depressive Mensch, der sie war, als du ein Kind warst. Sie ist jetzt gesund, sie arbeitet als Künstlerin, und sie vermisst dich sehr, weißt du das eigentlich?«
Ich verstumme, als meine Mutter anfängt zu weinen. Sie entzieht mir ihre kalten Finger, schlägt die Hände vors Gesicht.
Hilflos blicke ich auf ihren gesenkten Kopf und frage mich, ob ich zu grob war. Bin ich jetzt wieder schuld, dass Mama weint? Oder würde sie immer weinen, egal, wie ich es anpacke? Ihr Leben lang ist meine Mutter vor der Wahrheit davongelaufen. Glücklich hat sie das nicht gemacht.
Mamas Schultern zucken, ihre Tränen tropfen auf das weiße Tischtuch, und plötzlich sehe ich sie wie eine Fremde: das traumatisierte Kind, das sie war. Die verängstigte Frau, die sie ist. Mitgefühl mit dieser Fremden wallt in mir auf. Verdichtet sich, zerreißt mir das Herz. Am liebsten würde ich sie in die Arme nehmen und wiegen – tröstend, murmelnd, genau so, wie sie mich gewiegt hat, als ich noch klein war.
Nur dass ich ihr dabei keine Märchen erzählen würde.
Gequält schaue ich von meiner Mama zu meinem Vater. Ein kindlicher, feiger Teil von mir hofft, dass Papa die Ärmel hochkrempelt und eine seiner üblichen, schnellen Lösungen präsentiert. Aber er sagt nichts, rührt sich nicht, trommelt nur unaufhörlich mit den Fingern auf den Tisch. Er präsentiert uns keine schnelle Lösung, schießt es mir durch den Kopf, weil es keine schnelle Lösung gibt. Nur ein langsames, schmerzhaftes Herantasten. An einen Weg, an dessen Ende vielleicht die Heilung steht, und vielleicht auch nicht.
Mein innerer Monitor wird schmutzig und grau vor Furcht, als ich mich frage, ob ich das wirklich schaffe: weitermachen, weiterreden, gegen Mama und Papa, gegen die Tränen, das Schweigen, das Verdrängen. Bin ich stark genug dafür, ich
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