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Der geschmuggelte Henry

Der geschmuggelte Henry

Titel: Der geschmuggelte Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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Schlaganfall nahe zu sein schien, sagte Mrs. Harris: «Natürlich» und holte sie aus ihrer Plastiktasche heraus. «Heiß, was?» fügte sie freundlich hinzu. «Meine Freundin hier ist schon ganz in Schweiß gebadet.»
    «Ah oui», stimmte der Steward zu. «Ich mache es Ihnen kühler», und er stellte den elektrischen Ventilator an.
    «Viele Leute», sagte Mrs. Harris. Das war, als habe sie auf einen Knopf gedrückt und damit die Nervosität des Stewards auf Hochtouren gebracht. Er schwenkte nämlich plötzlich die Arme und schrie: «Oui! Oui! Oui! — Menschen, Menschen, Menschen, überall Menschen! Sie machen einen noch verrückt!»
    «Sind die Kinder nicht am schlimmsten?» fragte Mrs. Harris. Damit schien sie auf einen noch stärkeren Knopf gedrückt zu haben. «O lala», brüllte der Steward und schwenkte die Arme noch heftiger. «Haben Sie gesehen? Kinder, Kinder, Kinder, überall Kinder. Kinder machen mich wahnsinnig!»
    «Da haben Sie recht», sagte Mrs. Harris. «Ich habe noch nie so viele gesehen. Man weiß gar nicht, wo sie sind und wo sie nicht sind. Wie sollen Sie die bloß alle aufspüren?»
    «C’est vrai», erwiderte der Steward, «manchmal ist es unmöglich.» Nachdem er sich so etwas erleichtert hatte, sagte er: «Schönen Dank, Ladies. Wenn Sie etwas wünschen, läuten Sie nach Antoine. Ihre Stewardeß heißt Arline. Sie kümmert sich um Sie.» Und er eilte davon.
    Mrs. Harris öffnete die Tür zum Badezimmer, blickte hinein und sagte: «Alles verrichtet? Du bist doch ein Goldkind. Du kannst jetzt herauskommen.»
    «Muß ich jedesmal, wenn jemand klopft, im Badezimmer verschwinden?» fragte der kleine Henry.
    «Nein, mein Liebling», erwiderte Mrs. Harris, «jetzt nicht mehr. Jetzt wird alles klappen.»
    Und das tat es auch, da Mrs. Harris ihren psychologischen Samen zur rechten Zeit und in den richtigen Boden gesät hatte. Am Abend erschien der noch mitgenommener aussehende Antoine, um die Betten zu machen. Als er den kleinen Henry erblickte, sagte er: «Hallo, wer ist denn das?»
    Mrs. Harris, die jetzt weder sanft, freundlich noch gesprächig war wie bei seinem ersten Kommen, antwortete: «Was soll das heißen, wer ist das? Das ist Henry, meiner Schwester kleiner Sohn. Ich bringe ihn ihr nach Amerika. Sie hat eine Stellung als Kellnerin in Texas bekommen.»
    Der Steward machte ein noch verblüffteres Gesicht. «Aber vorhin war er doch nicht hier?»
    Mrs. Harris wurde zornig: «Was war er nicht? Sie träumen wohl. Das Kind ist mein Augapfel, und seit wir Battersea verlassen haben, ist es immer bei mir gewesen.»
    Der Steward stammelte: «Oui, Madame, aber...»
    «Nichts aber», rief Mrs. Harris, zum Angriff übergehend. «Es ist nicht unsere Schuld, wenn ihr Franzosen euch um nichts erregt und den Kopf verliert und laut über Leute und Kinder zetert. Sie haben selber gesagt, Sie könnten die Kinder nicht alle auseinanderhalten. Aber hüten Sie sich, den kleinen Henry zu vergessen, oder wir werden ein Wörtchen mit einem der Offiziere sprechen müssen.»
    Der Steward kapitulierte. Es war eine ungewöhnlich anstrengende Überfahrt. Im nächsten Gang war eine amerikanische Familie, die immer noch nicht genau zu wissen schien, wie viele Gepäckstücke und Kinder sie bei sich hatte. Außerdem hatte er die Schiffskarten bereits beim Zahlmeister abgegeben. Die Frauen wirkten ehrlich, und sicherlich war das Kind schon bei ihnen gewesen; es hatte ja schließlich auch durch die Paßkontrolle gemußt. Lange Jahre auf See und der Umgang mit Passagieren hatten ihn die Philosophie gelehrt, alles auf sich beruhen zu lassen und nicht näher nachzuforschen.
    «Oui, oui, oui, Madame,» sagte er besänftigend. «Natürlich erinnere ich mich an ihn. Wie heißt er? Klein-Henry? Wenn du hier in der Kabine Antoine nicht zuviel Arbeit machst, werden wir alle eine sehr schöne Reise haben.»
    Er machte die Betten und ging. Von da an war der kleine Henry ein voll anerkannter Passagier der «Ville de Paris» mit all den Vorrechten, die sich daraus ergaben. Niemand fragte mehr, wieso er da sei.

    In Battersea, Willis Gardens Nr. 3, war die einzige Auswirkung von Mrs. Harris’ gewagtem Coup, durch den sie den kleinen Henry für immer aus der Gewalt der Gussets befreit hatte, daß, als Mr. Gusset von einem seiner dunklen Geschäfte in Soho zurückkam, Mrs. Gusset, die im Schaukelstuhl saß und ihre Füße ausruhte, während die älteren Gussetkinder in der Küche das Abendessen bereiteten, die «Evening News», in der sie

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