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Der geschmuggelte Henry

Der geschmuggelte Henry

Titel: Der geschmuggelte Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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Lassen Sie sich sagen, als ich das letzte Mal mit dem 53 Silver Cloud, dem mit dem schwachen Zylinder, herüberkam, begleitete ich Sir Gerald Granby, den britischen Botschafter. Da dauerte das nur ein paar Sekunden, und wir waren schon auf dem Pier. Keine Paßkontrolle, kein Zoll für ihn. So geht das, wie geschmiert, wenn man einen Diplomatenpaß und einen Titel hat. Amerikanern imponieren Titel ungeheuer. Und jetzt denken Sie mal an meinen Boss. Er ist nicht nur der Botschafter, sondern ein echter französischer Marquis. Pah, die werden den Jungen nicht einmal bemerken, und wenn, dann werden sie keine Fragen stellen. Bitten Sie den Marquis darum. Ich wette, er wird es für Sie tun. Er ist ein wirklicher Gent. Wenn er mit dem Jungen durch die Kontrolle hindurch und auf dem Pier ist, dann können Sie ihn an sich nehmen, und für niemanden gibt es noch Verdruß. Nun, was halten Sie davon?»
    Mrs. Harris blickte ihn jetzt mit ihren kleinen frechen Augen an, die glänzten, aber nicht mehr von Tränen. «Mr. Bayswater», rief sie, «ich könnte Sie küssen!»
    Für einen Augenblick überfielen den würdigen Chauffeur die Ängste des eingefleischten Junggesellen von neuem, aber angesichts von Mrs. Harris’ erleichtertem und glücklichem Gesicht stoben sie schnell wieder davon, und er tätschelte sanft eine ihrer Hände auf der Reling und sagte: «Sparen Sie sich den Kuß für später, meine Gute, wenn wir wissen, ob die Sache klappt.»
    Und so geschah es zum zweitenmal in vierundzwanzig Stunden, daß Mrs. Harris die Geschichte von dem kleinen Henry, dem verschollenen Vater und ihrem Streich erzählte. Diesmal war ihr aufmerksamer Zuhörer der Marquis Hipolyte de Chassagne, Botschafter und außerordentlicher Bevollmächtigter der Republik Frankreich in den Vereinigten Staaten von Amerika, und die Szene spielte sich in dem Salon seiner Erster-Klasse-Suite an Bord des Dampfers ab. Der weißhaarige alte Diplomat lauschte der Geschichte, ohne etwas dazu zu sagen oder sie zu unterbrechen. Gelegentlich zog er nur an seinem Schnurrbart oder strich mit dem Finger über seine buschigen Brauen. Man konnte es seinen ungewöhnlich jungen, leuchtend blauen Augen oder seinem Mund, den er oft hinter der Hand versteckte, schwer ansehen, ob ihn ihre Bitte, eine staatenlose und papierlose britischamerikanische Halbwaise sich an seine Fersen hängen zu lassen und als seine erste Handlung als Frankreichs Vertreter den Jungen in ein fremdes Land einzuschmuggeln, amüsierte oder ärgerte.
    Als Mrs. Harris die Geschichte ihrer Missetaten genauso beendet hatte, wie es ihr Mr. Bayswater geraten, dachte der Marquis einen Moment nach und sagte dann: «Es war eine gute und tapfere Tat von Ihnen, aber auch etwas tollkühn, finden Sie nicht auch?»
    Mrs. Harris, die äußerlich wie innerlich auf der Kante eines Stuhls saß, schlug die Hände zusammen und sagte: «Ach, wem sagen Sie das? Ich müßte wohl den Hintern vollkriegen, aber Sir, wenn Sie sein Schreien gehört hätten, wenn sie ihn verprügelten, und gesehen hätten, daß sie ihm nicht genug zu essen gaben, was hätten Sie denn getan?»
    Der Marquis überlegte und seufzte: «Ach, Madame, Sie schmeicheln mir, so daß ich gar nicht anders antworten kann — das gleiche, vermutlich. Aber wir sitzen jetzt alle hübsch in der Patsche.» Es war erstaunlich, daß jeder, der auch nur für ganz kurze Zeit mit Mrs. Harris’ Nöten in Berührung kam, sofort das Pronomen «wir» benutzte und sie zu seinen eigenen machte.
    Schnell erwiderte Mrs. Harris: «Mr. Bayswater sagt, Diplomaten wie Sie hätten besondere Vorrechte. Man entrollt einen Teppich vor Ihnen, und es wird heißen: , und bevor Sie sich’s versehen haben, sind Sie mit dem kleinen Henry auf dem Pier, und niemand stellt Fragen. Dann komme ich, nehme das Kind an mich, und es und ich und sein Vater werden Ihnen ewig dankbar sein.»
    «Bayswater scheint ja viel zu wissen», sagte der Marquis.
    «Ja, natürlich», antwortete Mrs. Harris. «Er hat es ja schon einmal erlebt. Er sagt, das letztemal ist er mit jemand namens Sir Gerald Granby nach Amerika gekommen, und da hieß es: