Der geschmuggelte Henry
soweit ist, dann treiben sie Sie alle in die Haupthalle, und dort müssen Sie Schlange stehen, bis Sie an einem Tisch einem Burschen in einer Gefängniswärter-Uniform gegenüber sitzen, mit Augen, die Sie durchbohren, und dann kann man Ihnen nur raten, die richtigen Antworten zu geben. Ich habe es erlebt, wie eine Familie drei Stunden festgehalten wurde, weil einem Beamten in Europa bei der Ausstellung der Papiere eines Kindes ein Fehler unterlaufen war. So etwas entdecken sie nur allzu gern. Na, und dann kommen die Zollbeamten. Die sind fast ebenso schlimm. Puh, ich kann Ihnen sagen!»
Der Stein war jetzt so groß wie eine Melone und so kalt wie ein Eisbrocken. «Entschuldigen Sie mich», sagte Mrs. Harris. «Mir ist nicht ganz wohl. Ich glaube, ich gehe lieber in meine Kabine und lege mich ein Weilchen hin.» Und sie tat es. Zwölf unselige Stunden lang quälte Mrs. Harris sich allein mit dieser furchtbaren Neuigkeit und dem sich daraus ergebenden Problem herum, wobei es ihr gelang, das Ausmaß der Gefahren noch zu vergrößern und sich alles noch düsterer auszumalen. Und Mr. Bayswaters gebildeter Vergleich mit der spanischen Inquisition, der vor Mrs. Harris’ innerem Auge Bilder von Kerkern, Folterbänken und Folterungen mit glühenden Eisen hatte auftauchen lassen, vermochte ihre Unruhe auch nicht zu beschwichtigen.
Mit jedem Engländer oder sogar Franzosen wäre sie als Londoner Putzfrau fertig geworden, aber was Mr. Bayswater von der Unbarmherzigkeit der amerikanischen Einwanderungsbehörde und dem bürokratischen Gehaben, durch das einem das Betreten des Landes schwergemacht wurde, gesagt hatte, ließ sie sich, auch wenn er vielleicht etwas übertrieben hatte, völlig hilflos fühlen. Es würde nicht ein solches Gedränge und Durcheinander geben wie auf dem Bahnsteig des Waterloo-Bahnhofs und am Einschiffungspier in Southampton; keine freundlichen englischen Beamten, die es bei der Paßkontrolle nicht so genau nahmen und Mitgefühl mit einem geplagten Familienvater hatten; keine Möglichkeit, daß der kleine Henry sich an die Brut des netten und zerstreuten Professors Wagstaff anhängte; keine kleinen Tricks, keine Verstecke. Da Henry keinerlei Papiere hatte, würde man ihn bestimmt schnappen.
Mrs. Harris entsetzte nicht so sehr der Gedanke, daß Mrs. Butterfield und sie selbst hinter Gittern in dem Ort mit dem furchtbaren Namen Ellis Island — den es jetzt allerdings nicht mehr gibt — und der etwas Ähnliches wie ein russisches oder deutsches Konzentrationslager zu sein schien, saßen, sondern vielmehr der geradezu niederschmetternde Gedanke, daß Henry eingebuchtet und nach London zu den grausamen Gussets zurückgeschickt würde, während sie und Mrs. Butterfield nicht dort wären, um den Jungen zu schützen oder zu trösten. Verzweifelt grübelte sie darüber nach, auf welche Weise man den kleinen Henry vor dem dichten Einwanderungsnetz bewahren könnte, das Mr. Bayswater so plastisch geschildert hatte, aber ihr kam kein rettender Einfall. So wie Mr. Bayswater es beschrieben hatte, konnte keine Maus in die Vereinigten Staaten von Amerika ohne die richtigen Papiere hineinschlüpfen.
Um sich selbst machte sie sich keine Sorge, aber es war nicht nur der kleine Henry, der in einer schlimmen Patsche saß; sie hatte auch ihre gute, arme, schüchterne Freundin, Mrs. Butterfield, in eine Situation gebracht, die vielleicht dazu führen würde, daß sie vor Angst ernstlich krank wurde. Und dann waren da auch noch die Schreibers. Was würde Mrs. Schreiber tun, wenn sie, Ada Harris, gerade in dem Augenblick ins Gefängnis gesteckt wurde, da Mrs. Schreiber sie am nötigsten brauchte?
Es würde bestimmt so kommen, und darum brauchte Ada Harris dringend Hilfe. Aber an wen sollte sie sich wenden? Auf keinen Fall an Mrs. Butterfield, und sie wollte auch nicht die Schreibers beunruhigen, ehe das absolut notwendig war. Dann fiel ihr der einzige erfahrene Mann ein, den sie kannte — Mr. Bayswater. Obwohl er ein eingefleischter Junggeselle war, hatte er sich ihr gegenüber ganz zuvorkommend gezeigt und sie sogar zu mehreren Glas Portwein und Zitronenlimonade vorm Abendessen in die Cocktailstube eingeladen.
Und so flüsterte Mrs. Harris, als sie nach dem Abendessen alle in das Rauchzimmer hinaufgingen, um eine Tasse Kaffee zu trinken und eine Zigarette zu rauchen: «Könnte ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen, Mr. Bayswater? Sie sind ein so weitgereister Mann. Ich brauche Ihren Rat.»
«Aber gern, Mrs.
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