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Der geschmuggelte Henry

Der geschmuggelte Henry

Titel: Der geschmuggelte Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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zu sehen, Sir Gerald...>»
    «Ja, ja», sagte der Marquis hastig. «Ich weiß, ich weiß.» Aber in Wirklichkeit wußte er gar nicht soviel, wie er glaubte, von dem für ihn vorbereiteten Empfang. Er ahnte zwar, daß man ihn mit einem gewissen Zeremoniell und allerlei Aufhebens empfangen würde, aber nicht, in welchem Maß, obwohl er ebenso sicher war, daß niemand von ihm verlangen würde, sein Beglaubigungsschreiben zu sehen, bis er es offiziell und formell im Weißen Haus vorlegte. Sein Gefolge — Sekretär, Chauffeur, Diener und so weiter — würde ebenso rücksichtsvoll behandelt werden, und es war höchst unwahrscheinlich, daß jemand einen kleinen Jungen beachtete, der zu ihm zu gehören schien, zumal wenn er so wohlerzogen war, wie Mrs. Harris versichert hatte, und den Mund nie aufmachte.
    «Würden sie es tun?» sagte Mrs. Harris. «Meinen Sie nicht, daß es möglich wäre? Wenn Sie den kleinen Henry erst einmal gesehen haben, müssen Sie ihn einfach ins Herz schließen. Er ist ein so lieber kleiner Kerl.»
    Der Marquis machte eine Geste mit der Hand und sagte: «Pst. Seien Sie einen Augenblick still. Ich möchte nachdenken.»
    Sofort verschloß Mrs. Harris ihre Lippen und saß mit gefalteten Händen auf der Kante des goldenen Stuhls, wobei ihre Füße kaum den Boden berührten, und blickte den Marquis angstvoll mit ihren kleinen Augen an, die jetzt gar nicht mehr frech und listig, sondern nur beklommen und bittend waren.
    Dieser erhabene Mann tat genau das, was er, wie er gesagt hatte, tun wollte: Er setzte sich und dachte nach, aber nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen.
    Es war etwas Seltsames an Mrs. Harris, daß sie die Macht hatte, die Menschen das fühlen zu lassen, was sie selber fühlte. In Paris hatte sie ihn mit ihrer Leidenschaft für Blumen und schöne Dinge, wie ein Diorkleid, und ihrer Sehnsucht nach ihnen angesteckt. Jetzt hier hatte sie ihn auf ihre einfache Art ihre Liebe zu einem verlassenen Kind fühlen lassen und den Kummer, den man allzuwenig beim Gedanken an ein leidendes Kind empfindet. Es gab Millionen hungernder leidender Kinder in der ganzen Welt, und der Himmel vergebe es einem, man hatte nie an sie gedacht, und jetzt dachte er an ein kleines hungerleidendes Wesen, das von einem Individuum namens Gusset verprügelt wurde, einem Mann, den er nie gesehen hatte und nie sehen würde. Was ging ihn dies alles an? Aber als er zu der ihm verängstigt gegenübersitzenden Mrs. Harris hinblickte, ihre verschrumpelten Apfelbäckchen, ihr ergrautes Haar, ihre verarbeiteten Hände sah, spürte er, daß es ihn sehr viel anging. Während ihres kurzen Aufenthalts in Paris hatte diese Londoner Putzfrau ihm auf ihre Art einige glückliche Augenblicke geschenkt. Und vielleicht war sogar seine Ernennung zum Botschafter, wenn man es so wollte, ihr zu verdanken, denn sie hatte ihn dazu veranlaßt, dem Mann einer Freundin, die sie in Paris gefunden hatte, Mr. Colbert, zu einem bedeutenden Posten am Quai d’Orsay zu verhelfen, wo er binnen eines Jahres sich als sensationeller Glückstreffer erwiesen hatte. Daß man diese Entdeckung dem Marquis als Verdienst anrechnete, hatte vielleicht eine große Rolle dabei gespielt, daß man ihn für den begehrten ehrenvollen Posten des Botschafters in den Vereinigten Staaten erwählte. Aber es war da noch mehr. Sie hatte ihm die Tage seiner Jugend ins Gedächtnis zurückgerufen, als er Student in Oxford gewesen war und eine andere Putzfrau, eine ihrer Art, sich seiner in seiner Einsamkeit freundlich angenommen hatte.
    Der Marquis dachte: Was für eine gute Frau ist Mrs. Harris, und wie glücklich kann ich mich preisen, daß ich sie kenne! Und er dachte weiter: Wie seltsam angenehm ist es doch, wenn man die Macht hat, jemandem zu helfen. Wie jung fühlt man sich da! Und hier erlaubten sich seine Gedanken abzuschweifen und sich der Veränderung zuzuwenden, die seine Ernennung zum Botschafter in ihm bewirkt hatte. Vorher war er ein alter Mann gewesen, der sich damit abgefunden hatte, der Welt Valet zu sagen, und zum letztenmal ihre Schönheiten genoß. Jetzt fühlte er sich voller Energie und Tatendrang und hatte gar nicht mehr die Absicht, sich aus diesem Leben davonzumachen.
    Und mit höchster Genugtuung dachte er: Wie schön ist es doch, so alt und würdevoll zu sein, daß die Leute ein wenig vor einem zittern. Es bedeutete, dachte er mit einem inneren Lachen — und kehrte damit zu seiner englischen Erziehung zurück—, daß man in fast jeder

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