Der geschmuggelte Henry
war er ihr immer mehr ans Herz gewachsen—, weigerte sie sich, bekümmert zu sein. Trotzdem, um sich zu beruhigen, ging sie noch einmal den Ablauf des ganzen Plans durch.
«Nun sei mal nicht so verzagt, Liebe», sagte sie zu ihrer Freundin. «Was kann schon schiefgehen?» Und sie zählte an ihren Fingern alle Punkte auf: «Er geht mit dem Marquis durch die Kontrolle, und niemand wird Fragen stellen. Sobald er auf dem Pier ist, stellt er sich unter den Buchstaben B — B für Brown—, wo wir ihn abholen. Dort werden wir ein Taxi nehmen. Henry spielt das Sich-neben-einen-anderen-stellen-Spiel, bis die Schreibers abgefahren sind. Dann steigt er zu uns ein. Wir haben die Adresse. Wenn wir dort sind, bleibt er auf dem Gehsteig stehen, bis wir uns davon überzeugt haben, daß die Luft rein ist. Und dann eilen wir mit ihm eins, zwei, drei hinauf. Hat Mrs. Schreiber nicht gesagt, die Wohnung sei so groß, daß ein ganzes Regiment dort Platz hätte? Es wird sowieso nur ein paar Tage dauern, bis wir seinen Vater finden, und dann ist alles in Butter. So, und nun mach dir keine Sorgen mehr, sondern freue dich! Was kann schon schiefgehen!»
«Irgend etwas», erwiderte Mrs. Butterfield unerschüttert. Als sie auf das Meer vor sich hinunterblickten, konnten sie ein leuchtend weißes US-Küstenschiff sehen, mit einem Radarmast, einer riesigen amerikanischen Flagge und einem am Bug postierten Maschinengewehr. Eine Gangway führte von ihm zu einer offenen Tür im Rumpf des Ozeandampfers, und die beiden Frauen blickten gespannt hin, weil sich etwas Bedeutsames zu ereignen schien, denn die Musiker stellten sich auf Anweisung ihres Dirigenten auf, und eine Matrosenwache, die unter dem Befehl eines mit Ordensschnallen besäten Offiziers stand, reihte sich an der Gangway auf. Der Dirigent hob die Arme, der Offizier brüllte ein Kommando, das Gewehr wurde präsentiert. Der Stab des Dirigenten senkte sich, und die Musik intonierte das «Sternenbanner», dem dann die schrillen Klänge von «Stars and Stripes forever» folgten.
Unter den Klängen dieses Sousamarschs erschien ein Zug goldbetreßter Offiziere der Armee, der Marine und der Luftwaffe, denen sich Würdenträger in gestreifter Hose, Gehrock und Zylinder anschlossen. Alle tauchten aus der Tür im Rumpf der «Ville de Paris» auf und gingen über die Gangway zu dem Küstenwachschiff hinunter. Darm trat eine kurze Pause ein. Der Dirigent hob wieder die Arme und ließ sie gleich darauf mit einer schnellen Bewegung fallen, und seine Musiker stimmten ehrerbietig und laut die Marseillaise an. Ein sich straff haltender, gut aussehender alter Mann, ebenfalls in gestreifter Hose, grauem Gehrock und grauem Zylinder — ein alter Mann mit weißem Haar und Schnurrbart und leuchtend blauen Augen unter buschigen Brauen, die Rosette eines Ritters der Ehrenlegion im Knopfloch—, erschien in der Tür und blieb einen Augenblick stehen, nahm seinen Zylinder ab und hielt ihn an seine Brust, während die französische Nationalhymne gespielt wurde.
«Es ist mein Freund — es ist der Marquis!» schrie Mrs. Harris, die noch gar nicht merkte, was geschah.
Wohl aber Mrs. Butterfield, denn als die Nationalhymne verklungen war und unter den Klängen einer anderen Melodie der Marquis die Gangway hinunterging, stieß die dicke Frau einen schrillen Schrei aus und deutete mit ihrem fetten, zitternden Finger hinunter: «Sieh doch», schrie sie, «der kleine Henry geht mit ihm!»
Das tat er wirklich. Bayswater, der eine makellose Uniform anhatte, hielt die Hand des Jungen fest in der seinen, und hinter den beiden schritten Sekretär und Kammerdiener und das übrige Gefolge. Der kleine Henry folgte dem Marquis die Gangway hinunter und bestieg den Kutter, wo er die Ehrenbezeigung der Marine-Ehrenwache wie ganz selbstverständlich entgegennahm.
Mit sinkendem Mut begann Mrs. Harris zu begreifen, was geschah. Noch bevor der Kutter abfuhr, sah Mrs. Harris das graue vornehme Gesicht Bayswaters aufblicken. Seine Blicke schweiften beklommen über das Deck des Schiffes, und wie durch ein Wunder entdeckte er plötzlich Mrs. Harris. Eine Sekunde lang begegneten sich ihre Augen, und da zuckte Mr. Bayswater die Schultern, was Mrs. Harris deutlicher als Worte sagte, daß er, so leid es ihm tat, sich der höheren Gewalt beugen mußte.
Ja, und so war es auch. Bayswater, der kleine Henry und der Marquis wurden nicht nur darum mit solchen Ehren empfangen, weil man den Marquis Hypolite de Chassagne in Washington persönlich
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