Der geschmuggelte Henry
Dartingtons Sohn, Euer Exzellenz?» Als guter englischer Reporter kannte er sich im Adelskalender aus und wußte, daß eine der Töchter des Marquis de Chassagne Lord Dartington of Stowe geheiratet hatte.
Von Diplomaten erwartet man im allgemeinen, daß sie nicht rot werden, und in seinem Beruf war der Marquis eiskalt, aber dies hier war zuviel. Das Unheil brach zu unerwartet über ihn herein.
Die Wahrheit zu sagen, war natürlich völlig undenkbar. Hätte er «nein» geantwortet, hätte das zu weiteren peinlichen Fragen geführt, und so sagte der Marquis, ohne weiter nachzudenken: «Ja, ja.» Sein einziger Wunsch war jetzt, diese Prüfung so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und den rettenden Pier zu erreichen, wohin Mrs. Harris zu kommen versprochen hatte, um ihn von dem kleinen Henry zu befreien.
Aber diese letzte Enthüllung verursachte eine noch größere Sensation. Von neuem stürmten die Fotografen vor, ihre Blitzlichter flammten auf, und wieder ertönten laute Rufe: «Was hat er gesagt? Er ist der Sohn eines Lords?» — «Dann ist er ja Herzog!»
«Mensch, bist du verrückt? Dann ist er Sir. Nur Verwandte der Königin sind Herzöge!»
«Wie?» sagte jemand. «Er ist mit der Königin verwandt?»
«He, Herzog, sieh mal hierher!» — «Lächle uns an, Lord!» — «Wie heißt er? Baddington?» — «Wie wäre es, wenn du dem Marquis eine Ehrenbezeigung machtest?» Dem Marquis, der äußerlich die Würde wahrte, brach der kalte Schweiß aus bei dem entsetzlichen Gedanken, daß jetzt, da die Presse ihn durch unauflösliche Blutsbande an den kleinen Henry gekettet hatte, es nicht ganz so einfach sein würde, diese Bande auf dem Pier zu durchschneiden, wenn Mrs. Harris erschien, um den Jungen in Empfang zu nehmen.
Die Reporter und Rundfunkleute drängten sich jetzt an Henry. «Na, Henry, wie wäre es, wenn du etwas sagtest? Wirst du hier in die Schule gehen? Wirst du Baseball spielen lernen? Hast du eine Botschaft für die amerikanische Jugend? Schildere uns deine Eindrücke von Amerika. Wo lebt dein Vater — in einem Schloß?»
Aber auf all diese auf ihn einstürmenden Fragen blieb Henry stumm und hielt seinen Ruf, ein großer Schweiger zu sein, tapfer aufrecht. Die Interviewer wurden immer zudringlicher, aber das Schweigen des kleinen Henry immer undurchdringlicher. Schließlich sagte ein ungeduldiger Inquisitor spöttisch: «Was ist mit dir los? Hast du die Sprache verloren? Ich glaube gar nicht, daß der Marquis dein Großvater ist.»
Da machte der kleine Henry endlich den Mund auf. Die Glaubwürdigkeit seines Wohltäters stand auf dem Spiel. Der nette Mann mit dem weißen Haar und den freundlichen Augen hatte um Henrys willen gelogen, und jetzt galt es, diese Lüge zu verteidigen. Wie Mrs. Harris gesagt hatte, war der kleine Henry jemand, der nie einen Kameraden in der Patsche sitzen ließ.
Aus dem Munde des Kindes kamen in dem erwarteten kindlichen Sopran die Worte: «Sie haben verdammt recht. Er ist mein Großvater.»
Am anderen Ende des Raums hoben sich die Augenbrauen des Korrespondenten der Londoner «Daily Mail» bis an die Decke. Dem Marquis war es, als schlüge eine Woge des Grauens über ihm zusammen. Er ahnte nicht, daß die Katastrophe jetzt erst begann.
12
In der Touristenklasse standen Mrs. Harris und Mrs. Butterfield, nachdem sie alles gepackt und ihre besten Kleider angezogen hatten, mit ihren Pässen und Impfbescheinigungen in der Hand an der Reling, ganz berauscht von diesem ersten wirklichen Blick auf das neue und erregende Land, und sahen auf das Gewimmel der kleinen Dampfer, Kutter und Boote hinunter, die sich um die Gangways der «Ville de Paris» drängten.
Schon am frühen Morgen war Henry in die Kabine des Marquis gebracht worden, den Kopf voller Instruktionen, um jeder Möglichkeit gewachsen zu sein, falls sich zum Beispiel Mrs. Harris verspätete und so weiter.
Mrs. Harris strahlte, während Mrs. Butterfield jetzt, da Handeln von ihnen gefordert wurde und sie einer neuen schwierigen Situation gegenüberstanden, vor Nervosität schwitzte. «Ach, Ada», sagte sie, «bist du sicher, daß alles gut geht? Ich habe so ein Gefühl in mir, daß etwas Furchtbares geschehen wird.»
Selbst wenn Mrs. Harris sich etwas von Mrs. Butterfields prophetischem Inneren hätte zu eigen machen können, es war jetzt zu spät, den Plan zu ändern. Und obwohl ihr nicht ganz behaglich zumute war, da sie den kleinen Henry nicht bei sich hatte — in den fünf Tagen der Überfahrt
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