Der geschmuggelte Henry
die Hatfields sich an den McCoys rächten und sie niedermetzelten. Mrs. Harris, die in der Anrichte beim Zurechtmachen von belegten Brötchen half, glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, und einen Augenblick lang war es ihr, als wäre sie wieder in ihrer eigenen Wohnung in Battersea, Willis Gardens Nr. 5, hörte Rundfunk und tränke mit Mrs. Butterfield Tee, denn sie hatte ganz deutlich das Katerjaulen von Kentucky Claiborne vernommen, danach das Knallen einer Ohrfeige und das Geschrei eines geschlagenen Kindes, dem eine Musik forte crescendo folgte. Dann aber merkte sie, wo sie wirklich war und was geschehen sein mußte, obgleich sie es einfach nicht glauben konnte. Und sie lief aus der Anrichte in das Musikzimmer, wo sie einen weinenden Henry, dessen eine Backe von der Ohrfeige dunkelrot war, und einen auf seiner Gitarre klimpernden lachenden Kentucky Claiborne vorfand. Er hielt mit seinem Spiel inne, als er Mrs. Harris sah, und sagte: «Ich habe dem kleinen Bastard gesagt, er soll abhauen, aber er hatte Wachs in den Ohren, und so mußte ich ihm eine kleben. Sorgen Sie dafür, daß er das Zimmer verläßt - ich übe.»
«Das ist ja die Höhe», schrie Mrs. Harris, und dann begann sie zu toben: «Sie dreckiges Scheusal, ein wehrloses Kind zu schlagen! Wenn Sie ihn noch einmal anrühren, kratze ich Ihnen die Augen aus!»
Kentucky lächelte, ein ruhiges, gefährliches Lächeln, und ergriff sein Instrument mit beiden Händen am Hals. «Verdammt noch mal», sagte er, «in diesem Haus wimmelt es ja von Engländern! Ich habe dem Jungen gerade gesagt, wenn’s etwas gibt, das ich mehr hasse als einen Nigger, dann ist es ein Engländer. Scheren Sie sich hinaus, oder ich zerschlage diese Gitarre auf Ihrem Kopf.»
Mrs. Harris war nicht feige, aber auch nicht dumm. In ihrem langen Leben in London hatte sie es oft genug mit Betrunkenen, Raufbolden und schlechten Schauspielern zu tun gehabt, und sie erkannte sofort, wenn ein Mann gefährlich war. Darum ließ sie ihre Vernunft walten, nahm den kleinen Henry an die Hand und ging hinaus. Als sie sicher und geborgen im Gesindeflügel waren, tröstete sie ihn, kühlte sein Gesicht mit Wasser und sagte: «Ach, mein Liebling, mach dir nichts draus. Das ist ein Scheusal. Ada Harris vergißt so etwas nie. Es kann eine Woche, einen Monat, ja, ein Jahr dauern — aber wir werden es ihm heimzahlen. Einen wehrlosen Jungen zu schlagen, weil er Engländer ist!»
Hätte Mrs. Harris über ihre Vendetten Buch geführt, hätte man gesehen, daß alle früher in die Tat umgesetzt worden waren, als sie es sich gelobt hatte. Kentucky Claiborne hatte sich selbst in ihre schwarze Liste eingetragen, denn sein Verbrechen war, wie Mrs. Harris fand, unverzeihlich, und er würde dafür bezahlen müssen — irgendwie und irgendwann würde ihm der Garaus gemacht.
18
Bis zu dieser Zeit hatte Mrs. Harris wegen der Sorgen um den kleinen Henry und den Marquis, und weil sie Mrs. Schreiber helfen mußte, die Wohnung in Ordnung zu bringen und sauberzuhalten, von New York wenig gesehen: Das breite Tal der Park Avenue, zu deren beiden Seiten die hohen Appartementhäuser aufragten, und der endlose Strom des Verkehre in beiden Richtungen, der Tag und Nacht dem «Halt» und «Weiterfahren» der roten und grünen Ampeln gehorchte, die Läden in der nahen Lexington Avenue und die Radio City Music Hall, in der sie ein paarmal mit Mrs. Butterfield gewesen, war alles, was sie von Manhattan kannte.
Weil sie so viel zu tun hatte und alles so anders war, als sie es gewohnt gewesen, hatte sie keine Zeit gehabt, von der Stadt überwältigt zu werden. Aber nun änderte sich das. Es waren die George Browns, die Mrs. Harris mit diesem Babylon, das New York hieß, bekannt machten.
Es war eine verhältnismäßig friedliche Zeit jetzt, da der kleine Henry zum Hause gehörte, während die Filialen der Firma, die sich wie ein Netz über das ganze Land spannten, in der Vergangenheit der in ihren Städten ansässigen George Browns forschten, um den verschollenen Vater ausfindig zu machen.
Obwohl er bei Mrs. Harris schlief und seine Mahlzeiten mit ihr und Mrs. Butterfield einnahm, war der kleine Henry jetzt mehr in der Schreiberschen Wohnung. Er durfte in der Bibliothek stöbern und begann viele Bücher zu verschlingen. Sehr oft nahm Mrs. Schreiber ihn zu Einkäufen oder in eine Nachmittagskinovorstellung mit, während es zu einem ständigen Sonntagsritus wurde, daß er und Mr. Schreiber mit Ball, Schläger und Handschuh auf die
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