Der gestohlene Abend
schielte unauffällig zu Parisa hin, verwundert über ihre plötzlich zur Schau getragene Sensibilität.
»Ich hatte Ihnen versprochen, Sie zu informieren. Möchten Sie die Einzelheiten hören?«
Alle nickten, nur Julie nicht.
»David hat am Montagmorgen seinen Wagen vollgetankt. Was er den Tag über gemacht hat, ist unklar. Irgendwann hat er mit einem Schlauch mehrere verschließbare Plastikflaschen mit Benzin aus seinem Tank abgefüllt und sie in seinem Kofferraum gelagert. Gegen Viertel vor sieben hat er seinen Wagen vor seiner Wohnung abgestellt. Janine hat ausgesagt, dass er kurz vor sieben bei ihr eingetroffen ist.«
Ich blickte unsicher um mich. Julie schaute kurz zu mir herüber und blickte dann zu Boden. Die anderen schauten alle Marian an. Seine Wohnung, hatte sie gesagt. Wussten sie denn nicht, dass David schon seit drei Wochen gar nicht mehr dort wohnte? Und meine Beziehung zu Janine war ja wohl auch kein Geheimnis mehr. Oder überging sie das alles aus Takt?
»David ist gegen zehn wieder gegangen«, fuhr sie fort.
Drei Stunden, dachte ich. Sie hatten drei Stunden geredet.
»Janine hat mir nicht gesagt, worüber sie gesprochen haben. Aber offenbar haben sie gestritten.«
Wieder spürte ich kurz Julies Blick.
»Ob David danach gleich ins Archiv gegangen ist oder erst später, weiß niemand. Aber die Polizei nimmt an, dass er um diese Zeit zwei der drei Benzinflaschen aus dem Kofferraum genommen und ins Archiv gebracht hat. Was er bis zum Ausbruch des Feuers getan hat, ist wieder unklar. Es war um diese Zeit außer ihm niemand im Archiv. Die Feuerwehr geht davon aus, dass David die Flaschen ausgeschüttet und dabei unterschätzt hat, mit welcher Wucht sich Benzin in geschlossenen Räumen entzündet. Möglicherweise hat er zu lange gewartet. Das Benzin hatte vielleicht schon Dämpfe gebildet und ist explodiert. Die Untersuchung kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass es sich um Brandstiftung mit Todesfolge für den Brandstifter handelt.«
Marian unterbrach sich. Neil Carruthers kam aus der Küche und brachte mir meinen Kaffee. Niemand sprach ein Wort.
»In Davids Wagen fand man zwei Koffer und einen kleinen Rucksack, in dem Flugtickets nach New York und Tel Aviv sichergestellt wurden. Was immer sein Motiv für diese Wahnsinnstat gewesen ist, Selbstmord ist vermutlich auszuschließen. Das ist zwar kein Trost, aber wenigstens braucht sich niemand Vorwürfe zu machen. Vor allem nicht Janine.«
Ich war sprachlos. Koffer? Flugtickets? Er hatte das alles von langer Hand geplant?
»Er wollte abhauen?«, sagte Mark entgeistert. »Einfach übergeschnappt. Ein Jude, der Bücher verbrennt. Ich fasse es nicht.«
Ein peinliches Schweigen entstand. Es war Parisa, die es brach.
»Wissen Sie, wie es Janine geht?«, fragte sie.
»Nicht sehr gut«, antwortete Marian, sichtlich mitgenommen von der Heftigkeit, mit der Mark seiner Empörung Luft verschafft hatte. Mir ging es ähnlich. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.
»Ihr Vater hat mir gesagt, dass sie noch immer Medikamente bekommt. Aber die veränderte Umgebung tut ihr in jedem Fall gut.«
»Hat denn niemand eine Ahnung, was in Teufels Namen mit David los war?«, fragte Tom.
»Genau das wollte ich Sie alle fragen«, griff Marian die Frage auf. »Sie haben doch mitbekommen, dass er sich mir gegenüber komisch verhielt. Hat er sich Ihnen gegenüber nicht ausgesprochen, Bemerkungen über mich gemacht? Würden Sie mir das jetzt bitte sagen, falls es so war?«
»Zu uns war er doch genauso komisch«, sagte Parisa und warf einen Seitenblick auf mich, als ob ich etwas dafür konnte.
»Stimmt das?«, fragte Marian und schaute in die Runde.
»De mortuis nil nisi bene«, sagte Jacques. »Aber er macht es einem schon schwer. Ich fand ihn in letzter Zeit unausstehlich.«
Julie nickte. Mark sagte gar nichts. Aber man sah ihm auch so an, was er von David hielt. Seine Geste nach Davids Vortrag war noch jedem in Erinnerung.
»Ich hätte viel früher ein solches Treffen organisieren sollen«, sagte Marian, »um mit ihm und mit Ihnen allen offen zu sprechen. Ich weiß, dass ich an dieser Universität Feinde habe. Aber ich hoffe, falls einer von Ihnen dazu gehört, dann ist er oder sie wenigstens so fair, mir das zu sagen. Oder kann ich davon nicht ausgehen?«
Die Tragweite von Davids Tat wurde mir erst jetzt allmählich klar. Und den anderen offenbar auch. Marian war in einer furchtbaren Situation.
»Niemand hier ist Ihr Feind«, rief Tom erbost. »Im Gegenteil.
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