Der gestohlene Abend
Wenn Sie nicht wären, wäre keiner von uns hier. Und David ... ach, er hat doch alle immer nur als Publikum für seine Eitelkeit benutzt. Sogar seinen Ausstieg hat er wie eine Show inszeniert.«
»Wieso reden Sie von Ausstieg, Tom? Bin ich vielleicht ein Guru, von dem man sich gewaltsam befreien muss? Können Sie mir das erklären?«
»David hat diesen Begriff benutzt, Marian.«
»Und wie haben Sie das verstanden, Tom? Denkt hier im Raum vielleicht noch jemand so über mich?«
»Ich habe David während der letzten Monate ebenso wenig verstanden wie alle anderen«, verteidigte sich Tom. »Er hat sich doch nur noch über alles und jeden lustig gemacht.«
»Ich weiß. Aber die Frage ist damit nicht beantwortet. Davids Ausstieg, wie Sie das nennen, klebt an mir. Umso mehr nach seinem Tod. Und ob Sie das wollen oder nicht: er klebt an uns allen, am ganzen Institut.«
»Das sehe ich nicht so«, sagte Parisa. »Niemand von uns wollte David etwas Böses. Er hat von heute auf morgen beschlossen, in eine andere Richtung zu gehen, was ja sein gutes Recht ist. Ich weiß auch gar nicht, was ihr alle an dieser Shakespeare-Sache so schlimm findet. Im Grunde hat er sich doch nur lächerlich gemacht.«
»Ach ja?« Mark war offenbar anderer Meinung.
»Ja«, erwiderte sie spitz. »Läppische Fragen liefern nur läppische Antworten, auch wenn sie noch so scharfsinnig argumentiert sind. Besserwisserei war das, sonst nichts. Fechten mit Zwergen. Fast jede literaturwissenschaftliche Arbeit ist irgendwann überholt. Um nicht zu sagen: fast jede wissenschaftliche Arbeit. Aus Irrtümern von anderen seine Pointen zu holen, ist doch läppisch. Fakt ist: David hatte zu den Sonetten selbst gar nichts zu sagen. Deshalb hat er eine Polemik zur Diskussion um das Widmungsblatt verfasst.«
»Aber was war denn nur mit ihm los?«, warf nun Julie ein. »Weiß das denn niemand?«
Neil, der bisher an die Wand gelehnt der Unterhaltung gelauscht hatte, trat hinter Marian und legte ihr seine beiden Hände auf die Schultern. Marian schaute kurz zu ihm auf und lächelte dankbar.
Später gab es überbackenen Käsetoast und Weißwein. Ich kam zum ersten Mal mit Parisa ins Gespräch und erfuhr, dass sie ursprünglich aus Bangalore stammte. Sie war zufällig in der gleichen County zur Highschool gegangen wie ich. Der Name des Football-Teams ihrer Schule, das vom Team meiner Schule zwar vergeblich aber umso leidenschaftlicher bekämpft worden war, klang mir noch deutlich in den Ohren. Offenbar stieg ich in ihrem Ansehen, als ich zugab, keines dieser Spiele verfolgt und daher weder ihre Schule noch deren Football-Arena jemals betreten zu haben.
Jacques und Tom interessierten sich vor allem für Berlin. Sie hatten den neuen Wenders-Film gesehen und stritten darüber, ob er postmodern sei oder neoromantisch. Mit Mark sprach ich wenig. Je näher ich ihn kennenlernte, desto heftiger wurde meine Abneigung gegen ihn. Alles an ihm wirkte aufgesetzt. Er hatte etwas Feistes und Selbstgefälliges. Zugegebenermaßen war meistens er es, der noch die abseitigsten Autoren und Texte kannte. Aber dennoch stellte ich mir im Zusammenhang mit Mark Hanson zum ersten Mal in meinem Leben die Frage, ob zu viel Lesen nicht auch dumm machen konnte.
Am längsten sprach ich mit Julie Verassi, mit der ich auf dem Nachhauseweg ein Stück zusammen ging. Sie erkundigte sich nach Janine. Ob ich wisse, wie es ihr ging? Dabei schaute sie mich auf eine Weise an, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie über uns im Bilde war.
»Offenbar weiß ja jeder Bescheid.«
»Es gibt Gerüchte.«
»Und wie lauten die?«
»Dass sie etwas mit dir hatte.«
»Ich wusste nicht, dass sie auch zu eurer Gruppe gehörte«, sagte ich.
»Das war auch nicht so. Sie ist letztes Jahr manchmal in unseren Lektürekreis gekommen. Den veranstalten wir schon länger. Nur wir unter uns, ohne Marian. Solange David dabei war, ist sie manchmal auch gekommen.«
»Ich weiß nicht, wie es ihr geht«, sagte ich nach einer kurzen Pause. »Ihre Eltern haben sie gestern abgeholt. Sie hat das Trimester abgebrochen.«
Julie nickte ernst.
»Die Arme. Das kann ich gut verstehen. Es ist ja fast ein Frevel, einfach weiterzustudieren.«
Wir spazierten den äußeren Rundweg um den Campus entlang und waren schon fast an der Brücke angekommen, die zu meinem Wohnheim führte.
»Du kennst Janine vermutlich viel besser als ich, wenn du Lektürestunden mit ihr hattest.«
»Ich kenne nur ihre Ansichten«, erwiderte sie. »Im
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