Der gestohlene Abend
nehmen.«
Ich spürte einen Schauder im Nacken. Und was war mit mir? Ich atmete durch. Vielleicht würde sie heute Abend ja anrufen. Sie hatte ausgesagt. Dazu war sie also in der Lage. Ich ging nach draußen. Und dann traf es mich mit voller Wucht. Sie würde das Trimester abbrechen. Nach Hause reisen. Was denn auch sonst? Ihre Wohnung, wo sie mit ihm gelebt hatte, weiter bewohnen? Auf diesem Campus leben, der voller Erinnerungen war an ihre glückliche Zeit mit ihm? Sollte sie in der Bibliothek weiterstudieren, in der ihr Freund umgekommen war? Meine dämlichen Blumen. Ich dachte ja nur an mich. Kein Wunder, dass sie sich nicht meldete.
Winfried war nicht zu erreichen. Theo war ins Kino gefahren. Sonst kannte ich niemanden, der ein Auto hatte. Nicht einmal bei Safeway gab es Taxis. Also nahm ich das Fahrrad. Der Feierabendverkehr wälzte sich neben mir her. An den Ampeln streiften mich die Blicke von Autofahrern, die mich aus ihren klimatisierten Zellen heraus irritiert oder amüsiert betrachteten. Ich brauchte über eine Stunde. Verschwitzt und durstig betrat ich die Empfangshalle und verlangte, Miss Uccino sehen zu dürfen. Die Empfangsdame schaute in ihren Computer und teilte mir mit, dass Miss Uccino bereits entlassen worden sei. Der Schweiß floss nur so an mir herunter. Meine Oberschenkel schmerzten. Draußen dämmerte es.
Ich trat den Rückweg an. Mir war zum Heulen zumute, aber ich riss mich zusammen. Sie konnte doch nicht einfach so verschwinden. Bilder der letzten Wochen schössen mir durch den Kopf, während ich mit zusammengebissenen Zähnen in die Pedale trat. Janines Rollwende. Janine drei Reihen vor mir im Filmseminar. Unser erster Kuss auf dem Parkplatz des Movie World. Das Licht auf ihrer Haut in der Umkleidekabine.
Allmählich wurde es wirklich gefährlich auf der Straße. Ich fuhr auf dem Seitenstreifen. Überall lag Müll herum. Vor allem Flaschen und Dosen, Reifenteile, zerfetzte Styroporbe-hälter, in denen noch halbe Hamburger klebten. Mir war übel von der Anstrengung und den Abgasen. Ich fuhr dennoch geradewegs zu ihr. Aber da war nichts. Weder ihr Wagen, noch ein Licht in ihrer Wohnung. Ich stieg ab, ließ das Fahrrad einfach fallen, ging zur Haustür und klingelte. Keine Antwort. Ich hob das Fahrrad auf und fuhr nach Hause. Mein Zimmer war stockdunkel. Kein rotes Blinken auf dem Anrufbeantworter. Ich duschte lange, trank in einem Zug eine Dose Bier leer und legte mich auf die Couch.
Kapitel 43
Bei der Trauerfeier sah ich sie zum ersten Mal wieder. Wem war es nur eingefallen, das gleiche Auditorium zu benutzen? Es war gespenstisch. Wie schon drei Wochen zuvor saßen nun wieder alle dort unten: Holcomb, Krueger, Neil Carruthers, Marian und andere Mitglieder des INAT. Janine saß auch dort, begleitet von einem Mann und einer Frau, die ich noch nie gesehen hatte. Das mussten ihre Eltern sein, die gekommen waren, um sie abzuholen. Davids Bild war auf die Leinwand projiziert. Ein Blumengesteck stand neben dem Rednerpult.
Noch immer strömten Menschen herein. Ich saß so weit hinten wie möglich. Ich wollte niemanden treffen, mit niemandem reden müssen. Als die Musik zu Ende war, betrat der Dekan die Bühne und hielt seine Ansprache. Die Zeremonie war schlicht. Ich bekam wenig davon mit. Mein Blick war die ganze Zeit über auf einen einzigen Menschen gerichtet. Aber wie schon vor drei Wochen schaute sie kein einziges Mal nach hinten. Sie musste doch wissen, dass ich hier war. Delany bedauerte, dass Davids Angehörige nicht zu der Trauerfeier gekommen waren, äußerte jedoch zugleich Verständnis dafür.
Dann sprach er vom Schicksal, vom Unbegreiflichen, das uns vor die Wahl stelle, zu glauben oder zu verzweifeln, Ja oder Nein zu sagen. Die Rede dauerte nicht lange. Niemand sonst ergriff das Wort. Auch Marian nicht. Delany dankte allen und gab dann das Zeichen für den Beginn der Schweigeminute. Alle erhoben sich. Stille senkte sich über den Raum. Dann erklang wieder Musik, Delany trat von der Bühne herab, und die Sache war vorüber. Das Ganze hatte keine halbe Stunde gedauert. Jetzt schien jeder rasch gehen zu wollen. Ich hatte Schwierigkeiten, Janine im Auge zu behalten. Sie schritt mit gesenktem Kopf zwischen ihren Eltern auf den Ausgang neben der Bühne zu. Ich drängelte mich durch die Menge, aber als ich endlich im Freien angekommen war, hatten sie schon den Parkplatz erreicht. Sie wollte mich nicht sehen. Sie standen bereits vor ihrem Wagen. Die Türen öffneten sich, Janine
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