Der gestohlene Traum
meinst du«, hatte er gefragt, »verstehen dreijährige Kinder, was um sie herum passiert? Meinst du, sie können sich später, wenn sie erwachsen sind, an das erinnern, was sie in ihrer frühen Kindheit erlebt haben? Erinnerst du dich an dich selbst als dreijähriges Kind?«
Arkadij hatte seiner Frau nie erklärt, woher dieses leidenschaftliche Interesse für die kindliche Psyche bei ihm kam, aber einmal verplapperte er sich und gestand, er wolle wissen, ob seine Tochter sich noch an ihn erinnern würde, wenn sie erwachsen war. Seine erste Frau, die beim Weggehen das Mädchen mitgenommen und eine neue Familie gegründet hatte, hatte Arkadij ganz und gar aus dem Leben ihrer Tochter verbannt.
Diese Erklärung hatte für Arkadijs zweite Frau überzeugend geklungen, aber Oberst Gordejew befriedigte sie ganz und gar nicht. Er hatte den ausführlichen Lebenslauf des einstigen Diplomaten vor sich und sah sofort, dass Nikifortschuks Tochter zum Zeitpunkt der Ehescheidung nicht drei, sondern erst anderthalb Jahre alt gewesen war.
Aber die wichtigste Entdeckung, die Gordejew machte, bestand in der Identität des Passanten, der Nikifortschuks Leiche in einer dunklen Ecke neben einer Metrostation entdeckt hatte. Er war zufällig auf den leblos auf der Erde liegenden Mann gestoßen und wollte loslaufen, um die Erste Hilfe zu alarmieren, da er annahm, der Mann könnte noch am Leben sein. Aber im selben Moment erblickte er einen vorüberfahrenden Streifenwagen und rief die Milizionäre um Hilfe. Der Name dieses Passanten war Nikolaj Fistin.
Viktor Alexejewitsch sah bei Sherechow vorbei. Die Aktivitäten in dessen Büro waren bereits beendet, man hatte Morozows Leiche weggeschafft, die Gutachter hatten alles Notwendige erledigt und einen leichten Geruch nach Reagenzien hinterlassen.
»Was ist mit Larzew?«, fragte Gordejew, kaum hatte er die Tür geöffnet.
»Er war im Jagd- und Angelverein, danach haben die Jungs ihn verloren und versuchen jetzt, ihn wiederzufinden.«
»Pawel, er hat etwas aufgespürt, er sucht irgendeine konkrete Person. Schick ihm noch ein paar Leute hinterher. Wir müssen ihn absichern, in seiner Verzweiflung kann er das Gefühl für Gefahr verlieren.«
»Wird gemacht.«
»Was hast du über die Ärztin, diese Ratschkowa, herausgefunden?«
»Nichts Verdächtiges. Sie ist verheiratet, ihr Mann ist Rentner, ein Hobbyphilatelist. Die Familie tut sich nicht durch Wohlstand hervor. Die Kinder sind schon außer Haus. Keinerlei Auffälligkeiten.«
»Dann habe ich vor lauter Schreck wohl zu viel des Guten getan. Mir scheint jede Intuition abhanden gekommen zu sein. Aber jetzt etwas anderes. Wir brauchen Verstärkung für Fistins Observation. Das könnte uns sehr interessante Aufschlüsse geben.«
»Viktor, überlege dir, was du sagst!«, erwiderte Pawel Wassiljewitsch verdrossen. »Wo soll ich die Leute dafür hernehmen? Wir haben schließlich keine unerschöpflichen Reserven. Um die Lage in der Umgebung von Nastjas Haus zu kontrollieren und die Ratschkowa zu überprüfen, musste ich Fistins Beschattung einstellen. Jetzt willst du zusätzliche Leute, die Larzew hinterherlaufen sollen. Die werde ich irgendwie auftreiben. Aber wo ich die Leute hernehmen soll, die außerdem noch Fistin beschatten, ist mir völlig schleierhaft. Gontscharow hat mich heute schon dreimal zum Teufel geschickt, jedes Mal wütender. Und er hat Recht, Viktor. Wir haben keinerlei Konzept, wir fuhrwerken nur wild in der Gegend herum, schreien mal hü, mal hott und haben keine Ahnung, was im nächsten Augenblick passieren wird. Da ist es kein Wunder, dass Gontscharow die Wut packt. Wir bringen ständig seine Leute durcheinander, machen unsere Pläne rückgängig, noch bevor wir sie ausgeführt haben . . .«
»Irgendwann werde ich dich noch umbringen«, stieß Gordejew wütend hervor. »Du wirst als Langweiler und Kleinkrämer sterben. Hast du etwa keine Freunde bei der Miliz? Lebst du etwa erst seit gestern in Moskau und hast keine Beziehungen? Ruf an, bitte, flehe, versprich den Leuten fässerweise Wodka, wirf dich ihnen zu Füßen, aber ich möchte, dass Fistin in einer halben Stunde einen Rattenschwanz hinter sich herzieht. Die Diskussion ist beendet, Pawel. Ich weiß, dass es dir widerstrebt, Dinge zu tun, die die VorSchriften verletzen, und erst recht jemanden zu bitten, dir einen Gefallen zu erweisen, der gegen die Dienstanweisung verstößt. Aber es geht jetzt nicht darum, was dir widerstrebt und was nicht. Dies ist ein Befehl.
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