Der gestohlene Traum
nicht zu ihrer Freundin gehen, um ein bisschen mit ihr zu spielen?«
»Weil ich immer genau wissen muss, wohin sie geht und wann sie zurückkommt. Um fünf Uhr ist es draußen schon dunkel. Hallo! Jekaterina Alexejewna? Guten Tag, hier spricht der Vater von Nadja Larzewa. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Kennen Sie vielleicht zufällig eine Familie in Ihrem Haus, in der es ein etwa elfjähriges Mädchen namens Julia gibt? Die Obraszows? Wer sind denn diese Leute?. . . Haben Sie vielleicht die Telefonnummer und die Wohnungsnummer?. . . Danke, vielen Dank, Jekaterina Alexejewna. Noch eine Frage: Ist dort tagsüber jemand von den Erwachsenen zu Hause?. . . Die Großmutter? . . . Wie heißt sie denn?. . . Nochmals vielen Dank, Sie sind mein Schutzengel, was würde ich ohne Sie tun! Auf Wiederhören, alles Gute!«
»Nicht schlecht«, sagte Nastja voller Bewunderung. »Deine kriminalistischen Fähigkeiten müsste man besitzen, und dann zum Wohl der Allgemeinheit.«
Sie bereute sofort, was sie gesagt hatte. Sie hatte keinesfalls vor, sich mit Larzew auf eine Diskussion über die Qualität seiner Arbeit einzulassen. Sie hatte Olschanskij ihr Wort gegeben, dass sie mit Wolodja nicht über diese Dinge sprechen würde. Außerdem hätte so eine Unterhaltung sie sofort auf die Ermittlungen im Mordfall Jeremina gebracht, und Gordejew hatte ihr verboten, mit jemandem über den Fall zu sprechen. Aber Larzew schien ihre unüberlegte Bemerkung offenbar gar nicht zur Kenntnis genommen zu haben.
»Wenn du eines Tages eine Tochter hast, wirst du mich verstehen. Ich predige ihr jeden Tag, den Gott werden lässt, die bekannten Weisheiten von den fremden Onkels und Tanten, aber wenn sie auch nur zehn Minuten zu spät von der Schule nach Hause kommt, vergehe ich vor Angst. Ach, Nastja«, seine Stimme bebte, die Augen blitzten verräterisch auf, »möge der liebe Gott dir solche Qualen ersparen. Es reicht, dass ich meine Frau und das Baby verloren habe, noch so ein Unglück überlebe ich nicht. Darf ich noch einmal telefonieren?«
»Warum fragst du denn ständig? Natürlich darfst du.«
Nachdem Larzew die telefonische Bekanntschaft mit der Großmutter des Mädchens gemacht hatte, das einen Computer besaß, und ihr das heilige Versprechen abgenommen hatte, dass sie Nadja entweder vor Einbruch der Dunkelheit wieder nach Hause schicken oder jemand von den Erwachsenen sie begleiten würde, rief er seine Tochter an und gab ihr die väterliche Erlaubnis zum Besuch der Freundin. Nastja sah ihn an und dachte, dass nur ein völlig herzloser Mensch imstande wäre, Larzew vorzuwerfen, dass er schlampig arbeitete. Nein, Olschanskij würde das nicht über sich bringen und sie selbst auch nicht.
* * *
Nastja erblickte schon von weitem die ihr gut bekannte rötliche Haarmähne und wunderte sich. Im Laufe von vielen Jahren war Ljoscha Tschistjakow wohl zum ersten Mal pünktlich. Sie hatten sich in der Metro verabredet und wollten gemeinsam zu Nastjas Stiefvater fahren. In Erfüllung seines Versprechens wollte Leonid Petrowitsch Nastja mit der Frau bekannt machen, die ihm sein Strohwitwerdasein versüßte.
Nastja selbst hatte sich noch nie in ihrem Leben verspätet. Sie war bequem und langsam, schnelles Gehen war ihr zuwider, und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, einem davonfahrenden Bus hinterherzulaufen. Sie plante ihre Wege immer mit einer großzügigen Zeitreserve, und meistens war sie früher da als nötig. Von ihrem Freund Ljoscha Tschistjakow hingegen konnte man keinesfalls dasselbe behaupten. Ein begabter Mathematiker, der bereits mit dreißig Jahren Doktor der Wissenschaft geworden war, war er so zerstreut und vergesslich, dass er Nastja gelegentlich zur Verzweiflung brachte.
»Ich bin von den Socken«, sagte Nastja und küsste Ljoscha auf die Wange. »Warum kommst du nicht zu spät, wie es sich gehört?«
»Ein Unglücksfall. Es wird nicht wieder Vorkommen.«
Tschistjakow zupfte Nastja scherzhaft am Ohrläppchen, nahm ihren Arm und zog sie schnell zur Rolltreppe.
»Irgendwie kommst du mir traurig vor, meine Liebe. Ist etwas passiert?«, fragte er, als sie bereits durch die dunklen Hinterhöfe gingen, die zum Haus von Nastjas Eltern führten.
»Ich bin angespannt«, erwiderte Nastja knapp.
»Warum? Wegen dieser Frau?«
»Ja.«
»Aber du wolltest sie doch selbst kennen lernen.«
»Ja, sicher. Trotzdem . . . Ich bin nervös und weiß selbst nicht, warum. Was mache ich denn, wenn sie mir gefällt?«
»Was sollte daran
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