Der gestohlene Traum
um seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen und keinen Mangel zu leiden. Er durfte nur zu niemandem Kontakt aufnehmen, außer zu den Leuten vom KGB. Er kannte nicht einmal seine eigene Telefonnummer, um nicht in Versuchung zu kommen, sie jemandem mitzuteilen.
Er konnte nicht wissen, dass man ihn beim KGB ausgelacht und seinen Brief in den Papierkorb geworfen hatte. Nur ein einziger Mann hatte sich für diesen Brief interessiert. Er hatte die zerknüllten Blätter heimlich wieder aus dem Abfall geholt und beschlossen, den Behinderten für seine eigenen Zwecke zu benutzen, die nichts mit den Belangen der Staatssicherheit zu tun hatten. Der so Betrogene wusste nicht einmal, dass sich seine Telefonnummer mehrmals im Jahr änderte.
Er ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach, glaubte an seine Nützlichkeit für das Vaterland und war glücklich.
NEUNTES KAPITEL
Pünktlich um acht Uhr morgens betrat Nastja die Poliklinik der Hauptverwaltung für Innere Angelegenheiten. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit trug sie heute eine lange, leuchtend rote Wetterjacke, ihren Kopf schmückte eine große, flauschige Fuchspelzmütze.
Nachdem sie ihre Patientenkarte aus der Anmeldung abgeholt hatte, gab sie Jacke und Mütze an der Garderobe ab und fuhr hinauf in den zweiten Stock, in die Abteilung für Prophylaxe. Dort nahm sie alle Untersuchungsscheine in Empfang, ging wieder hinaus ins Treppenhaus und schlug den Weg zum Notausgang ein. Dort erwartete sie Tschernyschew mit einer großen Tasche aus hauchdünnem Kunststoff. Sie drückte Andrej einen Kuss auf die Wange, nahm wortlos die Tasche und begab sich zur nahe gelegenen Damentoilette. Zehn Minuten später verließ sie diese mit grell geschminkten Augen, in einem aufgeknöpften dunklen Mantel, unter dem ein schneeweißer Arztkittel zu sehen war. Um ihren Hals hing ein Stethoskop, in der Hand hielt sie einen Stapel Patientenkarten. Die dünne Kunststofftasche lag, zu einem winzigen Päckchen zusammengefaltet, in ihrer Manteltasche.
Nastja ging hinunter zum Dienstausgang, der in einen Hof führte, und stieg in einen hellen Wagen mit blauem Streifen, auf dem in roten Lettern »Medizinischer Dienst« stand. Es parkten noch mindestens drei Wagen derselben Art im Hof, und es würde nicht mehr lange dauern, bis andere Frauen, ebenso gekleidet wie Nastja, mit Stethoskop um den Hals und Patientenkarten in der Hand, in diese Autos steigen würden. Ärztinnen, die zu Hausbesuchen aufbrachen.
Der am Steuer wartende Tschernyschew sah Nastja an und begann zu lachen.
»Was ist los?«, fragte sie erstaunt. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Du siehst sehr hübsch aus, wenn du geschminkt bist.«
»Tatsächlich?«, fragte Nastja skeptisch.
»Ehrenwort. Du bist sogar schön. Warum machst du das nicht jeden Tag? Uns Männern zur Freude und dir selbst zu Gefallen. Bist du zu faul dazu?«
»So ist es«, murmelte Nastja und ordnete die vermeintlichen Patientenkarten auf ihren Knien. »Eure männlichen Freuden interessieren mich nicht, und so etwas wie weibliche Eitelkeit besitze ich nicht. Weißt du, wie wir fahren müssen?«
Andrej antwortete nicht, er steuerte den Wagen durch die Toreinfahrt auf die belebte Straße.
»Warum hast du mich gestern nicht zurückgerufen?«, fragte er.
»Ich habe deinem Ljoscha doch meine Telefonnummer hinterlassen und dringend um deinen Anruf gebeten.«
»Ich bin sehr spät nach Hause gekommen, und du hast schließlich ein kleines Kind. Ich wollte nicht stören. Ist etwas passiert?«
»Ja, es ist etwas passiert. Der einstige Untersuchungsführer Grigorij Fjodorowitsch Smelkow wohnt jetzt bei Dmitrow, und um dorthin zu gelangen, müssen wir über die Straße in Richtung Saweljewsk fahren.«
Der sorgfältig geordnete Kartenstapel fiel Nastja von den Knien.
»Treffer«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Noch nicht ins Schwarze, aber haarscharf daneben. Endlich! Ich kann es kaum glauben.«
»Kannst du mir vielleicht erklären, wie uns dieser Treffer gelungen ist?«
»Ich weiß es selbst nicht. Wahrscheinlich Intuition. Kannst du dich erinnern, wie ich dich gefragt habe, womit Vikas Mutter ihr Geld verdient hat?«
»Ich habe dir gesagt, dass sie als Schneiderin gearbeitet hat.«
»Genau. Und ich habe mir immerzu den Kopf darüber zerbrochen, warum der Violinschlüssel auf Kartaschows Zeichnung diese salatgrüne Farbe hat. Gibt es etwas in einem ganz gewöhnlichen Haushalt, das man zum Zeichnen dieses Violinschlüssels benutzt haben könnte?«
»Und zu
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