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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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grauhaariger Mann mit einem roten Vollbart.
    »Zu wem möchten Sie?«, fragte er mit klangvoller Bassstimme.
    »Sind Sie Grigorij Fjodorowitsch?«
    »Ja, der bin ich.«
    Nastja war schon dabei, ihren Dienstausweis hervorzuholen, aber dann überlegte sie es sich anders.
    »Dürfen wir hereinkommen?«
    »Bitte sehr.«
    Smeljakow ging zur Seite und ließ die Gäste eintreten. Im Innern glich das Haus einer komfortablen, beinahe luxuriösen Stadtwohnung. Holzgetäfelte Wände, an den Fenstern schwere, teure Vorhänge, im Wohnzimmer brannte ein Kamin, kein elektrischer, sondern ein richtiger. Vor dem Kamin ein Schaukelstuhl mit einer achtlos zurückgelassenen Wolldecke, daneben, auf dem Fußboden, zwei riesige Neufundländer, die beim Auftauchen der Fremden sofort aufsprangen und in wachsamer Pose erstarrten.
    »Wie schön es bei Ihnen ist!«, platzte es unwillkürlich aus Nastja heraus.
    Der Hausherr lächelte zufrieden. Man sah ihm an, dass er sein Haus liebte und stolz darauf war.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er, während er Nastja den Mantel abnahm.
    »Grigorij Fjodorowitsch, könnten wir uns mit Ihnen über die Ereignisse des Jahres neunzehnhundertsiebzig unterhalten?«
    Smeljakows Reaktion war völlig überraschend. Er lächelte erfreut.
    »Also hat man meine Erzählung doch noch veröffentlicht! Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Ich habe das Manuskript voriges Jahr einer Zeitschrift angeboten und nie wieder etwas gehört. Ich dachte, man hätte es verworfen. Aber offenbar haben Sie die Erzählung gelesen, und sie hat Ihr Interesse geweckt. Allerdings müssen Sie wissen, dass dort nicht alles auf Fakten beruht, ich habe mir auch einige dichterische Freiheiten genommen. Aber nehmen Sie doch bitte Platz, ich mache Tee, und dann beantworte ich gern alle Ihre Fragen.«
    Nastja klammerte sich an Kartaschows Arm fest, um nicht umzukippen. In Augenblicken plötzlicher Erleuchtung wurde ihr meistens schwindlig, alles begann sich zu drehen, und ihre Knie gaben nach.
    »Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Boris leise, während er Nastja vorsichtig zum Sofa geleitete.
    »Schlechter könnte es nicht sein«, murmelte sie, während sie ihre eiskalte Handfläche an die Stirn presste und nach Luft rang. »Macht nichts, es vergeht gleich wieder. Boris . . .«
    »Ja?«
    »Ich glaube, ich habe alles verstanden. Wir sind in eine schreckliche Geschichte hineingeraten. Es könnte jetzt sehr gefährlich werden. Gehen Sie, gehen Sie auf der Stelle. Irgendwie schaffe ich es auch allein, wieder nach Moskau zu kommen.«
    »Reden Sie keinen Unsinn, Anastasija. Ich bleibe natürlich hier.«
    »Verstehen Sie doch, Boris, ich habe nicht das Recht, Sie in diese Geschichte hineinzuziehen. Ich werde für das Risiko bezahlt, aber Sie haben nichts damit zu tun. Ich bitte Sie, gehen Sie, solange es noch nicht zu spät ist. Wenn Ihnen etwas zustößt, werde ich mir das nie verzeihen können.«
    »Nein. Versuchen Sie nicht, mich zu überreden. Wenn Sie nicht wollen, dass ich bei dem Gespräch dabei bin, kann ich so lange im Auto warten. Aber ich lasse Sie hier nicht allein zurück.«
    Nastja wollte noch einmal widersprechen, doch in diesem Augenblick erschien der Hausherr wieder im Zimmer. Er schob einen kleinen Servierwagen vor sich her.
    »Hier ist der Tee. Guter Gott, wie blass Sie sind«, sagte er mit einem besorgten Blick auf Nastja. »Sind Sie krank?«
    Sie hatte sich inzwischen wieder gefasst und lächelte.
    »Ich bin immer so, achten Sie nicht darauf.«
    Sie tranken Tee, der mit Minze, Johanniskraut und Preiselbeerblättern angesetzt war, und Grigorij Fjodorowitsch erzählte ihnen von dem Mord, den Tamara Jeremina begangen hatte. Der einstige Untersuchungsführer versuchte nicht, etwas zu verschweigen. Seither war viel Zeit vergangen, und er hatte es nicht mehr nötig, sich zu rechtfertigen. Außerdem war es in den letzten Jahren modern geworden, über die einstige Willkür der kommunistischen Partei zu sprechen und zu schreiben. Die Partei wurde beschimpft, man bedauerte diejenigen, die ins Netz ihrer gnadenlosen Machtausübung geraten waren, insofern sah Smeljakow nichts Unanständiges oder Gefährliches darin, seine Geschichte zu erzählen.
    Am Tag nach dem Mord, als Tamara bereits verhaftet worden war, wurde Smeljakow von einem Parteisekretär aus dem Stadtkomitee zu sich gerufen. Er verließ das Büro des Parteisekretärs als Chef einer Behörde für Innere Angelegenheiten im Umkreis von Moskau und als Inhaber einer großen

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