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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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fixierte Nastja mit einem beunruhigten, argwöhnischen Blick.
    »Woher wissen Sie dann Bescheid?«
    »Bevor ich Ihnen antworte, würde ich Ihnen gern etwas vorlesen.«
    Nastja holte die »Todessonate« aus ihrer Handtasche. Sie hatte das Buch vorsorglich in Papier eingeschlagen, damit man das Bild auf dem Einband nicht sehen konnte. Sie schlug das Buch an einer der vielen Stellen auf, die mit Lesezeichen versehen waren, und übersetzte vom Blatt. Nachdem sie zwei Absätze gelesen hatte, hob sie die Augen und sah Smeljakow an.
    »Gefällt es Ihnen?«
    »Was ist das?«, fragte er entsetzt. »Wo haben Sie das her? Das ist doch von mir, es stammt aus meiner Erzählung. Der Blick aus dem Fenster meines Büros. Ander verwahrlosten Hauswand gegenüber das riesige Transparent mit der Aufschrift ›Es lebe die KPdSU‹. Darunter das von Hooligans hingeschmierte Hakenkreuz. Und unter diesem Gesamtkunstwerk lag jeden Samstag ein und derselbe Betrunkene, der irgendwann abgeholt und in die Ausnüchterungszelle gebracht wurde. So etwas kann man doch nicht frei erfinden, oder?«
    »Ich lese Ihnen noch ein Stück vor.«
    Sie schlug das Buch an einer anderen Stelle auf und übersetzte noch einen Abschnitt.
    »Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Die Namen sind verändert, insgesamt ist es ein anderer Text, aber die Einzelheiten, die Vergleiche, sogar einzelne Sätze stammen wortwörtlich von mir. Was hat das zu bedeuten?«
    »Wo haben Sie Ihr Manuskript hingebracht?«
    »In die Redaktion der Zeitschrift ›Kosmos‹.«
    »Wem genau haben Sie es gegeben?«
    »Ich sehe gleich nach. Ich habe mir den Namen aufgeschrieben.«
    Grigorij Fjodorowitsch öffnete die Schublade seines Schreibtisches und entnahm ihr eine Visitenkarte.
    »Hier«, sagte er und reichte Nastja die Karte. »Auf der Rückseite steht der Name. Der Mann, mit dem ich gesprochen habe, hieß Bondarenko. Er hat lange nach einem Zettel gesucht und schließlich nach irgendeiner Visitenkarte gegriffen, die auf seinem Schreibtisch lag. Auf der Rückseite . . . Lieber Gott, was ist mit Ihnen? Gleich, gleich . . .« Smeljakow begann, aufgeregt in den Taschen seiner Strickjacke zu wühlen. »Ich muss irgendwo Nitroglyzerin haben . . .«
    »Nicht nötig, machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Nastja mit tonloser Stimme, während sie die Visitenkarte in ihre Handtasche zu stecken versuchte. Sie schaffte es kaum, den Verschluss zu öffnen, ihre Finger gehorchten ihr nicht. »Es ist schon wieder vorbei. Hier ist es etwas stickig.«
    Der Hausherr begleitete seine Gäste zum Wagen. Nach ein paar Atemzügen an der kalten, feuchten Luft ging es Nastja wieder besser.
    »Grigorij Fjodorowitsch, haben Sie keine Angst, allein in diesem Haus zu leben?«
    »Nein, ich habe die Hunde und eine Waffe. Außerdem sind die Nachbarn nicht weit.«
    »Trotzdem. . .«
    »Warum trotzdem? Was meinen Sie?«
    »Sie sind ein Profi und wissen genauso gut wie ich, dass Sie für gewisse Leute sehr gefährlich sind. Sie wissen sehr viel mehr, als Vika Jeremina wusste. Und wenn jemand dieses Mädchen so gefürchtet hat, dass ein Mord begangen wurde, dann können auch Sie in ernste Gefahr geraten. Ich weiß, dass Sie sehr viel mehr Erfahrung haben als ich und selbst am besten wissen, was Sie zu tun und zu lassen haben. Ich kann Ihnen nichts raten, ich kann Ihnen nur meine Hilfe anbieten.«
    »Seltsam«, lachte Smeljakow. »Ich wollte Ihnen eben genau dasselbe sagen. Sie sind klug und zupackend, Sie sind mutig, aber auch sehr vorsichtig. Das ist eine typisch weibliche, aber in der Polizeiarbeit sehr nützliche Eigenschaft. Auch ich wage es nicht, Ihnen Ratschläge zu erteilen. Aber auch ich biete Ihnen gern meine Hilfe an.«
    Nastja und Boris traten schweigend die Rückfahrt an. Boris hatte eine Menge Fragen auf der Zunge, aber er konnte sich nicht entschließen, ein Gespräch zu beginnen.
    »Fahren wir wieder zum Yacht-Club?«, fragte er schließlich.
    »Nein, nach Moskau.« Nastja holte die Visitenkarte, die Smeljakow ihr gegeben hatte, aus ihrer Handtasche. »Ich möchte versuchen, die Redaktion der Zeitschrift ›Kosmos‹ zu finden.«
    Auf der Vorderseite der Visitenkarte stand in goldfarbenen Lettern: VALENTIN PETROWITSCH KOSARJ.
    * * *
    Um sich nicht zu verraten, musste Nastja unbedingt vor dem Ende der ärztlichen Sprechstunden wieder in die Poliklinik gelangen und sie demonstrativ in ihrer leuchtend roten Jacke verlassen. Sie trat gegen sieben Uhr abends aus dem Gebäude, ebenso gekleidet wie am Morgen, in der

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