Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
zum Vorjahr ganz anders, nämlich viel steiler und mit mehr Schnee. Iwan kam nur ganz langsam voran. An einer Stelle strauchelte er und fing sich gerade noch am alten Fixseil. Als ich ihm nun den sachgerechten Einsatz des Eispickels am Grat zeigte, wurde deutlich, daß ich es mit jemandem zu tun hatte, der vor vier Monaten zum erstenmal im Leben Schnee gesehen hatte. Bei guter Seilsicherung – mit der wir gerechnet hatten – hätte man auf dem gespurten Grat keinen Pickel benötigt. Jetzt aber mußte ich diesem beherzten und entschlossenen jungen Mann beibringen, wie man sich damit zurück auf die Route kämpft. Wieder einmal fragte ich mich, was dieses Erlebnis für die Indonesier bedeutete. Als Sportler hätte ich für einen Gipfelsieg nie ein Menschenleben aufs Spiel gesetzt, aber diese Soldaten, die völlig anders gepolt waren, stellten den Erfolg über ihr Leben.
Nachdem Iwan sich auf den Grat zurückgekämpft hatte – eine Situation, die meine ganze Aufmerksamkeit erforderte -, stiegen wir langsam weiter den Grat entlang, und ich erreichte den Fuß des Hillary Step. Hier stieß ich auf einen Toten 43 . Er lag in die Seile verwickelt da, die Steigeisen in Aufstiegsstellung vor der Bewältigung dieses letzten, technisch schwierigen Teils der Route. Seine Gesichtszüge waren unkenntlich. Die Bedingungen in dieser Höhe sind so hart, daß ich mit Sicherheit nur feststellen konnte, daß er einen blauen Daunenanzug anhatte. Mehr Aufmerksamkeit konnten ich und die anderen unserer Gruppe ihm nicht widmen, ein Umstand, den ich sehr bedauere, da den Toten Respekt gebührt. Meine Aufgabe aber war es, das flackernde Lebenslicht der drei Indonesier zu hüten, und unsere Situation war alles andere als ungefährlich.
Ich erreichte das obere Ende des Hillary Step, während Iwan und Asmujiono hinter mir langsam den Grat hinter sich brachten. Dort beratschlagte ich mit Bashkirov, da wir nun entscheiden mußten, ob wir die anderen zurückschicken und mit Misirin allein weiterklettern sollten. Apa und Dawa waren schon zum Gipfel vorausgegangen, Asmujiono war eben dabei, den Hillary Step zu überwinden, und Vinogradski tauchte am oberen Ende auf. Er hatte versucht, Iwan zur Umkehr zu bewegen, vergebens, wie sich zeigte, da dieser sich jetzt den Hillary Step hinaufkämpfte. Keiner der Indonesier war zur Aufgabe bereit. Ich machte mir zunehmend Sorgen um ihre Kraftreserven, da ich an den Abstieg dachte, den sie auch noch aus eigener Kraft bewältigen mußten. Obwohl es bis zum Gipfel nur mehr hundert Meter waren, sprach ich mit Iwan und Asmujiono und riet ihnen, sie sollten umkehren und absteigen. Sie weigerten sich.
So kam es, daß wir alle weiter zum Gipfel aufstiegen. Ich ging voraus und holte dreißig Meter vor dem Gipfel Apa und Darwa ein, mit denen ich über die nachlassende Kondition von Asmujiono und Iwan sprach, die sich wie Roboter bewegten, völlig auf den Gipfel konzentriert. Ich wollte, daß sie umkehrten, solange sie noch konnten. Wir würden höchstwahrscheinlich das Lager auf 8500 Meter benutzen. Ich wollte so rasch wie möglich wieder vom Gipfel absteigen, da es mittlerweile fünfzehn Uhr, also sehr spät, geworden war. Das Wetter war stabil, doch hingen feine weiße Wolken über der Bergflanke. Da die Indonesier nach jedem Schritt eine Minute ausruhten, ehe sie den nächsten machten, würden sie noch eine halbe Stunde brauchen. Als ich den Gipfel erreichte, in dreißig Metern Entfernung gefolgt von Misirin und Bashkirov, sah ich Misirin im Schnee zusammenbrechen. Und ganz plötzlich überholte Asmujiono Misirin. Den Gipfel unverwandt im Blick, lief er benommen und wie in Zeitlupe darauf zu, um den flaggengeschmückten Dreifuß zu umarmen, der offiziell als Gipfel des Mount Everest gilt. Er nahm seine Kopfbedeckung ab, setzte seine Armeemütze auf und entfaltete die Flagge seines Landes. Meine Verwunderung hätte nicht größer sein können.
Die Entschlossenheit dieses Mannes hatte den Indonesiern den Sieg beschert. Das mußte genügen, jetzt hieß es sofort umkehren!
Ich überprüfte meine Kondition. Ich fühlte mich gut und hatte noch Kraftreserven. Auch Bashkirov und Vinogradski waren stark und ihr Denkvermögen ungetrübt. Wir waren noch immer entscheidungsfähig und hatten die Lage unter Kontrolle, während unsere Indonesier nur mehr automatisch funktionierten. Ihr Zustand konnte eine Gefahr heraufbeschwören.
Ich machte Fotos von Asmujiono. Es war schon fünfzehn Uhr dreißig, also sehr spät. Nun
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