Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
erreichte Bashkirov den höchsten Punkt. Apa, der auf den Gipfel zurückkehrte, wurde von mir sofort hinunterbeordert, damit er das Zelt im Lager V aufstelle. Wir hielten uns insgesamt nicht länger als zehn Minuten auf. Vinogradski hatte sich dem Dreifuß bis auf wenige Meter genähert, als ich allen die Umkehr befahl. Vinogradski drehte sich um und ging zu Iwan, der sich achtzig Meter vor seinem Ziel befand. Und ich ging zu Misirin, der bis auf dreißig Meter ans Ziel herangekommen war. Da er im Schnee lag, kniete ich neben ihm nieder und sagte zu ihm, daß er den Gipfel erreicht hätte. Ich staunte nicht schlecht, als er sich zusammenriß und tatsächlich den Abstieg begann. Hundert Meter unter dem Gipfel trafen wir beim Abstieg auf Vinogradski und Iwan. Es war mir sehr schwergefallen, diesen Männern so knapp vor dem Ziel die Umkehr zu befehlen, aber ich hatte darauf bestanden, da nun jede Minute zählte. Schafften wir den Abstieg nicht mehr bei Tageslicht, geriet unser ganzer Notplan ins Wanken.
Wir trafen um siebzehn Uhr auf dem Südgipfel ein, nachdem wir mühselig und langsam an alten Seilen entlanggegangen waren, die Apa zur Querung des Grates zusammengestückelt hatte. Ich ging als letzter, vor mir das Team. Dawa erwartete uns am Südgipfel. Beim Abstieg vom Südgipfel stürzte Misirin etliche Male, aber er raffte sich immer wieder auf und ging weiter. Iwan, der Vinogradskis Sauerstoff benutzte, hatte sich vom Seil gelöst und rutschte aus. Hätte Vinogradski ihn nicht gepackt und ans Fixseil gezogen, er wäre über hundert Meter tief abgestürzt. Asmujiono, der sich sehr gut bewegte, stieg mit den Sherpas ab. Ich übernahm die Führung der Gruppe und richtete den Schein meiner Stirnlampe in der Dämmerung auf die Spur.
Um neunzehn Uhr dreißig erreichten alle Indonesier mit mir Lager V. Bashkirov und Vinogradski trafen eine Stunde später ein. Jetzt waren die Indonesier die einzigen, die Sauerstoff brauchten. Ich nahm ihnen ihre Steigeisen ab und brachte sie im Zelt unter, das, um zwei Teile der Stangen an Höhe verkürzt, eher aussah wie ein großer Biwaksack. Wir hatten einen Kocher, Töpfe, Gas und zwei volle Sauerstoffflaschen. Es war nicht eben ein sonderlich komfortables Notlager, bot aber für sechs Mann Platz sowie Schutz vor der Außentemperatur, die bereits stark sank. Zum Glück herrschte Windstille. In dieser Nacht würde der Everest sich gnädig zeigen. Ich stimmte zu, daß Apa mit Dawa abstieg. Am Morgen würden wir Funkverbindung aufnehmen.
Jetzt begann, was Bashkirov diplomatisch als »dramatische Nacht« beschreibt. Evgeny Vinogradski ging sofort nach seiner Ankunft im Lager daran, Wasser heißzumachen, und hörte die ganze Nacht über nicht auf, während Bashkirov und ich uns abwechselten, den erschöpften Indonesiern Sauerstoff zu geben, einem nach dem anderen, immer wieder. Wir mußten den Sauerstoffvorrat strecken, damit er die ganze Nacht reichte. Blieb einer der drei zu lange ohne die kostbare Flasche, fing er zu schreien oder zu beten an. Wir arbeiteten zu dritt und schafften es mit vereinten Kräften, ohne daß ein Wort nötig gewesen wäre. 44
Der Morgen kam windstill und mit prächtigem Farbenspiel. Als wir aus dem Zelt krochen, empfing uns das Panorama von Lhotse, Makalu und Kanchenjunga gegen Osten und Süden, während der alles überragende Everest-Gipfel von der Morgensonne in blendendes Licht getaucht wurde. Jetzt mußten wir nur noch den Abstieg hinter uns bringen. Unser knapp errungener Gipfelsieg würde erst dann ein echter Sieg sein, wenn alle Teilnehmer wohlbehalten im Basislager eintrafen.
Wir machten eine letzte Runde Wasser heiß und gaben jedem etwas zu trinken. Die Indonesier hatten sich mental gut erholt, und sie waren ohne Erfrierungen davongekommen. Unser Sauerstoff war verbraucht, aber die gute Akklimatisation und die lange Nacht mit Sauerstoff hatten ihre positive Wirkung getan. Die drei bewegten sich langsam, aber sie bewegten sich. Wir wußten, daß uns Apa und die Sherpas vom Südsattel aus entgegenkommen würden. Die Welt lag im herrlichen Licht des Morgens vor uns, als wir aufbrachen.
Die Lage war nun so stabil, daß ich es wagen konnte, mich meinem ganz persönlichen Anliegen zu widmen. Auf 8400 Meter hielt ich Ausschau nach Scotts Leichnam, nach dem ich am Tag zuvor vergebens gesucht hatte. Jetzt sah ich, daß wir bei unserem Aufstieg in der Dunkelheit nur dreißig Meter entfernt an ihm vorbeigegangen waren. Ich hoffe, daß ich meine Mission in
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