Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
Jeannies Sinn ausführte. Die Flagge mit Abschiedsgrüßen von Scotts Frau und Freunden, mit der ich ihn hätte bedecken sollen, hatte ich am Gipfel zurückgelassen, da ich zu diesem Zeitpunkt die Verfassung meines Teams und die noch vor uns liegende Aufgabe nicht einschätzen konnte und auch nicht wußte, ob ich Scott beim Abstieg finden würde. Jetzt war das Schlimmste ausgestanden, und ich mußte meine Verpflichtung erfüllen und Scott bestatten, der fast gänzlich von Schnee bedeckt war. Ich bat Evgeny, mir bei dieser traurigen Aufgabe zu helfen. Wir bedeckten ihn mit Schnee und Felsbrocken und kennzeichneten die Stelle mit dem Schaft eines Pickels, den wir in der Nähe fanden. Diese letzte Ehre galt einem Mann, von dem mir vor allem sein strahlendes Lächeln und seine positive Einstellung als ideale und liebenswerteste Verkörperung amerikanischen Wesens in Erinnerung bleiben wird. Ich selbst, der ich von eher schwieriger Natur bin, hoffe, seinem Gedächtnis gerecht zu werden, indem ich versuche, ein wenig nach seinem Vorbild zu leben. Seine Flagge weht auf dem Gipfel.
Evgeny und ich trafen zu Mittag am Südsattel ein. Misirin, Iwan und Asmujiono waren schon am Balkon mit Sauerstoff versorgt worden. Hier am Südsattel konnten sie endlich erleichtert aufatmen. Sie hatten es geschafft. Wir tranken Tee und machten uns für die Nacht fertig.
Am Morgen des 28. April ging ich über den Sattel zur Kante unweit der Kangshung-Flanke, wo ich letztes Jahr in jener grauenvollen Nacht Yasuko Namba zurückgelassen hatte. Ich fand sie, zum Teil mit Schnee und Eis bedeckt. Ihr Rucksack fehlte, sein Inhalt lag in Fels und Eis um sie herum verstreut. Ich las ein paar Kleinigkeiten für ihre Familie auf und bedeckte ihren kleinen Körper mit Steinen. Als Markierung hinterließ ich zwei Pickel, die ich in den Felsen in der Nähe fand. Neben meiner tiefen Trauer über die Verluste waren diese kleinen Gesten der Ehrerbietung das einzige, was ich für ihre und Scotts Familie tun konnte.
Unwillkürlich mußte ich daran denken, wie bereitwillig Iwan, Asmujiono und Misirin dem Tod ins Auge geblickt hatten. Ich dachte aber auch daran, wie die Familien, die hier jemanden verloren haben, den Verlust verschmerzen müssen. Ich weiß, daß dieser Gipfelsieg weitere unerfahrene Menschen in die Berge locken wird. Und ich wünschte mir sehr, ich wüßte eine andere Möglichkeit, meinen Unterhalt zu verdienen. Mich lokken noch viele Ziele in den Bergen, da ich wie jeder Sportler die Grenzen meiner Belastbarkeit kennenlernen möchte. Für mich ist es zu spät, einen anderen Weg zur Finanzierung meiner persönlichen Ziele zu finden. Und doch habe ich große Vorbehalte, im Rahmen meiner Tätigkeit unerfahrenen Menschen Zutritt zur Bergwelt zu verschaffen.
Ich werde nicht gern Führer genannt, denn ich nehme ungern die schreckliche Verantwortung auf mich, zwischen dem Ehrgeiz eines Menschen oder seinem Leben entscheiden zu müssen. Jeder Mensch trägt selbst die Verantwortung, ob er sein Leben aufs Spiel setzt oder nicht. Die Unterscheidung zwischen »Führer« und »Berater« stößt sicher vielfach auf Spott, doch ist es die einzige Form von Protest, die ich gegen eine Erfolgsgarantie bei Bergbesteigungen einlegen kann. Ich kann Trainer und Berater sein und als Rettungseinsatzleiter tätig werden. Aber ich kann weder Erfolg noch Sicherheit garantieren, da natürliche Umstände und körperliches Versagen in extremer Höhe sehr komplexe Faktoren sind. Ich selbst habe mich damit abgefunden, daß ich in den Bergen ums Leben kommen kann.
Misirin, Asmujiono, Iwan, Apa, Dawa, Bashkirov, Vinogradski und ich stiegen ab und gaben uns der Siegesfreude hin. Viele einzelne hatten Anteil an unserem Erfolg, vor allem aber war das Glück auf unserer Seite. Die indonesische Expedition fand ein Ende, das sich nicht schmerzlich in mein Herz eingebrannt hat.
Postskriptum
Nach ihrem Everest-Erfolg kehrten die Indonesier und Boukreev mit den anderen russischen Alpin-Beratern nach Kathmandu zurück, um eine Party zu feiern und alles Geschäftliche zu regeln. Nachdem die Zusammenarbeit mit den Indonesiern beendet war, flogen Boukreev und ein Freund Mitte Mai wieder nach Lukla und begannen einen Treck zum Everest-Basislager, wo Boukreev die Berg- und Wetterverhältnisse für eine mögliche Lhotse-Everest Traverse erkunden wollte: eine Besteigung des Lhotse mit anschließender Überschreitung zum Everest Gipfel. 45
Auf dem Treckingpfad kurz hinter Namche Bazaar,
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