Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
wo der Weg sich über steil abfallende, mit einem Teppich blühender Rhododendronsträucher bedeckte Hänge in die Schlucht des Dudh Kosi hinunterwindet, traf Boukreev auf Dr. Ingrid Hunt. Sie war in den Himalaja gekommen, um eine Gedenktafel für Scott Fischer anzubringen. In dem kurzen Gespräch mit Boukreev erklärte sie mit Tränen in den Augen, sie würde niemals wieder in den Himalaja zurückkehren.
Boukreev verabschiedete sich von ihr und setzte den Weg zum Everest fort, nicht ohne jeden Entgegenkommenden genau zu mustern. Er hoffte, Teilnehmer einer japanischen Expedition zu treffen, die vom Basislager und vom Everest zurückkamen. Boukreev hatte in Kathmandu Amulette und persönliche Habseligkeiten zurückgelassen, die er in der Nähe von Yasuko Nambas Leichnam gefunden hatte, nachdem er die Japanerin unter einem steinernen Totenmal bestattet hatte. Er wollte ihrem Mann in Japan diese Gegenstände zukommen lassen.
Nach einer Nacht in Pangpoche brachen Boukreev und sein Freund sehr früh auf. Gegen fünfzehn Uhr trafen sie in Gorak Shep ein, wo sie im wachsenden Schatten des schneebedeckten Pumori in einem Rasthaus Tee tranken. Als im Hof ein Japaner auftauchte, erkundigte sich Boukreev, ob er vielleicht jemanden kenne, der Yasuko Nambas Sachen nach Tokio bringen und sie ihrer Familie zurückgeben könnte. Der Zufall wollte es, daß Boukreev den bekannten japanischen Bergsteiger Muneo Nukita angesprochen hatte. Muneo verstand die Frage und deutete auf einen Landsmann. Es war Kenichi Namba, der Ehemann Yasukos, der in der Hoffnung nach Nepal gekommen war, den Leichnam seiner Frau vom Südsattel zu bergen.
Während Muneo Nukita als Dolmetscher fungierte, tranken Boukreev und Kenichi Namba eine Kanne Tee, und Boukreev versuchte in seinem stockenden, gebrochenen Englisch zu erklären, was sich im Jahr zuvor zugetragen hatte. Unter Entschuldigungen wiederholte er mehrfach und unter Tränen, daß er wünschte, er hätte mehr tun können. Er sagte, daß er das Gefühl hätte, bei Yasuko versagt zu haben, weil er nicht in der Lage gewesen sei, ihr so beizustehen wie Charlotte Fox und Sandy Hill Pittman. Er sei von falschen Voraussetzungen ausgegangen, er habe auf Hilfe gehofft, die nie gekommen sei. Das alles tue ihm schrecklich leid.
Kenichi Namba hörte still und aufmerksam zu, und als Boukreev nichts mehr sagte, antwortete Kenichi Namba auf Japanisch, daß ihm nichts ferner läge als Schuldzuweisungen. Seine Frau sei leidenschaftliche Bergsteigerin gewesen und habe ihr ehrgeizigstes Ziel, eine Everest-Besteigung, erreicht. Er dankte Boukreev für die Hilfe, die er den anderen geleistet hatte, dankte ihm aber auch, daß er dorthin gegangen war, wohin er selbst nicht gelangen konnte, um die sterbliche Hülle seiner Frau zu bedecken und sie vor den grausamen Elementen zu schützen. Sie sprachen noch zwei Stunden miteinander, dann verabschiedete sich Boukreev im schwindenden Tageslicht und machte sich wieder auf den Weg zum Berg.
In Memoriam
Anatoli Nikoliavich Boukreev, Dimitri Sobolev, Vladimir Bashkirov, Bruce Herrod, Lopsang Jangbu Sherpa,
Scott Fischer, Yasuko Namba, Rob Hall, Andy Harris, Doug Hansen, Ngawang Topche Sherpa, Chen Yu-Nan
Unsere Freunde, deren Sehnsucht den Höhen galt, ruhen nun für immer im Reich der Berge, das uns mit aller Kraft anzieht. Vergeßt jene nicht, die von den Gipfeln nicht wiederkehrten.
Anatoli Boukreev, 1997
Am 6. Dezember 1997 wurde Anatoli Boukreev der David A. Sowles-Gedächtnispreis des Amerikanischen Alpenvereins verliehen. Diese Ehrung wird nur jenen Bergsteigern zuteil, die »unter selbstlosem Einsatz, persönlichem Risiko oder unter Aufgabe eines Zieles Bergkameraden Hilfe leisteten.« Die Jury erkannte Boukreev den Preis durch einstimmigen Beschluß zu, für seine »wiederholten, außerordentlichen Bemühungen, drei erschöpfte, in einen Schneesturm am Südsattel des Mount Everest geratene Team-Mitglieder zu suchen und zu bergen«, sowie für seinen »tapferen letzten Versuch, im erneut ausbrechenden Schneesturm seinen Freund und Expeditionsleiter Scott Fischer zu retten.«
Die Preisverleihung fand anläßlich der Jahresversammlung des Amerikanischen Alpenvereins in Seattle, Washington, statt, und die Ankündigung des Preisträgers wurde mit großem Beifall aufgenommen. Boukreevs Kameraden, erfahrene und qualifizierte Alpinisten, hatten über ein Jahr lang die Umstände der Mount Everest-Tragödie vom 10. Mai 1996 geprüft und Anatoli für sein heldenhaftes
Weitere Kostenlose Bücher