Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
Verhalten Anerkennung gezollt.
Da Boukreev wenige Wochen vor der Preisverleihung nach Nepal geflogen war, mußten sich die über vierhundert Zuhörer mit einer kurzen schriftlichen Erklärung begnügen, mit der er in der für ihn charakteristischen Bescheidenheit seinen Dank dafür aussprach, »daß der Amerikanische Alpenverein sich bemüht hat, dem Vertreter einer anderen Kultur mit so viel Verständnis zu begegnen.«
Boukreev war nach Nepal geflogen, um sich mit Simone Moro zu treffen. Der Dreißigjährige aus Bergamo ist einer der namhaftesten italienischen Alpinisten. Die beiden planten eine Winterbesteigung des Annapurna (8078 Meter) über die Südflanke. Moro erklärte, Anatoli sei bei seiner Ankunft in Kathmandu gut in Form gewesen und hätte sich gefreut, wieder im Himalaja zu sein. Tatsächlich fühlte er sich nirgends so heimisch und eins mit sich wie in den Bergen. Einige Monate zuvor hatte er einem kasachischen Reporter auf die Frage, ob er in den Bergen jemals Angst verspürt habe, geantwortet: »Nein, im Gebirge kenne ich keine Angst. Im Gegenteil … ich spüre, wie meine Schultern sich weiten wie bei einem Vogel, der die Schwingen ausbreitet. Ich genieße die Freiheit und die Höhe. Erst wenn ich wieder absteige, spüre ich das Gewicht der Welt auf mir.«
Als Boukreev, Moro und Dimitri Sobolev, ein kasachischer Kameramann, der die Expedition filmen wollte, am 1. Dezember per Helikopter im Annapurna-Basislager eintrafen, schätzten sie die Erfolgschancen der Expedition vorsichtig optimistisch ein. Die geplante Aufstiegsroute mußte zwar wegen heftiger Schneefälle geändert werden, doch die Aussicht auf eine Wetterbesserung wirkte als Ansporn.
Drei Wochen lang leisteten Boukreev, Moro und Sobolev Schwerarbeit, um auf 5200 Meter das Lager I zu errichten, wobei sie oft durch brusthohen Schnee eine Spur treten mußten. Von dort aus sollten Fixseile bis zu einem Grat auf knapp über 6000 Meter gelegt werden. Entlang dieses Grates war der Aufstieg zum Gipfel geplant. Die Route war zwar länger und mühsamer als die ursprünglich vorgesehene, aber weniger lawinengefährdet, denn auf diese Weise ließen sie die gefährlichen Hänge des Annapurna rasch hinter sich.
Im Morgengrauen des Weihnachtstags 1997 erwachten die drei in Lager I. Moro erzählt, Anatoli sei ganz locker gewesen und habe gutgelaunt gescherzt. Den ganzen Morgen über brachten sie Fixseile an und näherten sich allmählich dem Grat. Um 12 Uhr siebenundzwanzig befand sich Moro auf 5950 Meter Höhe. Unter ihm kämpften sich Boukreev und Sobolev durch eine Rinne oder Couloir nach oben, Boukreev mit einer Seilrolle über der Schulter, mit der das letzte Stück bis zum Grat gesichert werden sollte.
Moro, der sich über seinen Rucksack gebückt hatte, richtete sich eben auf, als er einen lauten, explosionsartigen Knall hörte. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, daß sich eine gewaltige Eis- und Schneelawine auf ihn zubewegte. Eine von der Aufstiegsroute aus nicht sichtbare Wächte hatte sich vom Grat gelöst. In den drei Sekunden, ehe ihn die Lawine erreichte, hatte Moro gerade noch Zeit, nach unten zu blicken und »Anatoli!« zu rufen.
Boukreev und der knapp unter ihm stehende Sobolev, beide auf etwa 5650 Meter Höhe, blickten in Richtung des Warnrufes und sahen eine Wand aus Eis und Schnee auf sich zukommen. Anatoli, der die Lage sofort erfaßte, wich rasch auf die schräge Seitenwand der Rinne aus.
Moro wurde von der Gewalt der Schneemassen mitgerissen, den ganzen Hang hinunter. Ein Stück oberhalb von Lager I, wo die Lawine zum Stillstand kam, gab sie ihn frei. Bewußtlos und im Schnee halb begraben, blieb er liegen. Nachdem er zu sich gekommen war und sich aufgerappelt hatte, rief er mehr als eine Viertelstunde lang nach seinen Kameraden. Von Anatoli und Dimitri kam keine Antwort.
Moro, dessen Handflächen von den rauhen Fixseilen blutiggescheuert waren, holte sich aus dem Zelt neue Handschuhe, ehe er sich an den mühsamen, sechsstündigen Abstieg zum Basislager machte. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß er dort einen Sherpa antraf, der geblieben war, obwohl man ihm freigestellt hatte, das Lager zu verlassen. Ein Helikopter wurde gerufen, der Simone Moro zur medizinischen Behandlung nach Kathmandu flog. Von dort aus rief Moro in den Vereinigten Staaten an.
Am Abend des 26. Dezember traf die Nachricht in Santa Fe, New Mexico, ein. Bestürzung und Fassungslosigkeit waren die ersten Reaktionen. Am Tag zuvor hatte ich
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