Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
Weihnachten gefeiert, indem ich mit Linda Wylie, Anatolis Freundin, sowie mit Dyanna Taylor, einer Dokumentarfilmerin, die 1978 die Frauenexpedition auf den Annapurna begleitet hatte, bei der zwei Teilnehmerinnen ums Leben gekommen waren, im Schneesturm den Atalaya Mountain, einen leichten Gipfel im Norden New Mexicos, bestieg. Den ganzen Tag über waren wir in Gedanken in Nepal gewesen und hatten Mutmaßungen angestellt, an welchem Tag Anatoli und Simone ihren Gipfelsturm unternehmen würden. Wir gingen davon aus, daß sie Vollmond abwarten wollten.
Am 28. Dezember flog Linda Wylie nach Nepal, um sich an der Suche nach Anatoli und Dimitri zu beteiligen. Es bestand immer noch Hoffnung, daß die beiden sich irgendwie aus der Lawine hatten befreien können und in Lager I, das mit Proviant, Kocher und Höhenbekleidung wohlausgerüstet war, auf Rettung warteten.
In den letzten Dezembertagen wurden mehrere Versuche unternommen, mit einem Helikopter den Ort zu erreichen, wo die Lawine abgegangen war, doch das verhangene Wetter verhinderte, daß ein Suchtrupp auch nur in die Nähe von Lager I gelangte. In den Vereinigten Staaten und in Europa stellte die Presse wilde Spekulationen über das Schicksal der Vermißten an. Einer der vielen Anrufer, die mich kontaktierten, war ein Journalist des US News & World Report , der mich bat, mit ihm die Fakten eines Artikels zu überprüfen, den sein Blatt über Anatolis Tod bringen wollte. Ich äußerte mich erstaunt und besorgt, daß der Artikel erscheinen sollte, ehe das Schicksal der vermißten Bergsteiger geklärt war, zeigte mich aber widerstrebend bereit, den Artikel auf Detailgenauigkeit hin zu kommentieren. Nach nur wenigen Zeilen hieß es darin, daß Boukreev »vermutlich vor allem als Bösewicht in Jon Krakauers Bestseller In eisigen Höhen in Erinnerung bleiben würde.« Sofort erhob ich Einspruch. »Nein, das glaube ich nicht. Falls Anatoli den Tod gefunden hat, wird er allen so im Gedächtnis bleiben, wie ihn seine Freunde kannten, als leidenschaftlichen Bergsteiger und als Mensch, der großen Mut bewies.«
Am 3. Januar 1998 wurde ein kasachisches Kletterteam unter der Führung von Rinat Khaibullin mit einigen Sherpas per Helikopter zu Lager I geflogen, um die Lawine zu durchsuchen. Sie fanden auch das Zelt, in dem Anatoli den Weihnachtsabend verbracht hatte. Es war so leer, wie Simone Moro es verlassen hatte. Linda Wylie gab in Kathmandu eine Erklärung heraus: »Das ist das Ende … es besteht keine Hoffnung mehr, ihn lebendig zu finden.«
Die Nachricht erreichte mich zu Hause. Insgeheim hatte ich mich immer noch an die Hoffnung geklammert, Dimitri und Anatoli hätten es doch zu ihrem Zelt geschafft, und man würde sie lebend finden. Ich sagte mir, wenn einer überlebt, dann ist es der Weiße Rabe – Anatolis Spitzname unter seinen kasachischen Freunden, die um seine Einzigartigkeit als Bergsteiger wußten. Ich stellte mir vor, wie er mit untergeschlagenen Beinen in seinem Zelt saß, eine Tasse Tee in Händen, und mit spöttischem Lächeln seinen Freund Rinat empfing: »Warum hast du so lange gebraucht?«
Nachdem ich aufgelegt hatte, warf ich einen Blick auf die Wand hinter meinem Schreibtisch, wo seit Jahren ein Spruch hängt, die Worte Andrej Tarkovskys, eines berühmten russischen Filmregisseurs. »Mein Interesse gilt vor allem jenen Menschen, die es über sich bringen, sich und ihre Lebensweise zu opfern. Oft erscheint das absurd und wenig sinnvoll. Und dennoch – oder gerade deshalb – bewirkt jemand, der so handelt, grundlegende Veränderungen im Leben der Menschen und im Lauf der Geschichte.«
Ich halte Anatoli Nikoliavich Boukreev für einen dieser Menschen, und es ehrt mich, daß ich ihm helfen durfte, seine persönliche Geschichte zu erzählen. Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, wie sehr er mir und meinen Freunden, die wir mit ihm Berge bestiegen und ihn liebten, fehlen wird.
Wir werden Dimitri Sobolev und Anatoli Boukreev nicht vergessen.
Weston DeWalt
Black Mountain, North Carolina
10. Mai 1998
Danksagung
Die Autoren möchten allen jenen Dank aussprechen, die ihnen Beistand leisteten, unter ihnen einige, die ungenannt bleiben wollen. Besonderen Dank schulden wir den Mitgliedern der Everest-Expedition 1996 von Mountain-Madness.
Viele haben dazu beigetragen, daß die Ereignisse, die zu diesem Buch führten, geschildert und formuliert werden konnten. Unser Dank gilt im besonderen: Reina Attias, Kevin Cooney, Charles Ramsburg, Michele
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