Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
schätzte, daß er vier Stunden bis zum Lager II brauchen würde und ihm vor Einbruch der Dunkelheit noch ausreichend Zeit blieb, alle Nachzügler aufzusammeln. Als er nach dem Essen losmarschierte, auf den Eisbruch zu, traf er drei Treckerinnen, die sich als Sandy Pittmans Freundinnen vorstellten, mit denen sie das letzte Wochenende verbracht hatte. In dem Gespräch, das er höflich, wenn auch ungern führte, da er sich auf seinen Aufstieg konzentrieren wollte, wiederholte er seine Meinung, daß Sandys Fritten Eskapade »nicht sehr klug« gewesen sei.
Da er es kaum erwarten konnte weiterzukommen, entschuldigte er sich und ging los. Er hatte schon zuviel Zeit vertan. Martin Adams war unterdessen weiter oben, in Lager I, Zeuge einer bestürzenden Szene geworden.
»Ich stieß in einem Zelt in Lager I auf Kruse. Da wir uns hier nicht länger aufhalten sollten, sagte ich: ›Was ist? Wo fehlt’s?‹ Er sagte, daß es ihm nicht gut ginge und er sich ziemlich elend fühle. Er wolle sich ausruhen, nötigenfalls die ganze Nacht. Morgen wolle er nachkommen. ›Das ist aber nicht nach Plan‹, denke ich, und hinter mir kommen Tim und Charlotte, und ich sage: ›He, seht doch mal nach Kruse. Mir scheint, daß es ihm sehr schlecht geht!‹ Sie gingen also ins Zelt und sprachen mit ihm, und auch sie waren der Meinung, daß er angeschlagen war.
In Lager II tranken Scott und Neal schon ihren Tee, als ich ankam. Ich schilderte ihnen Kruses Schwierigkeiten. Sie hätten sich das ohnehin gedacht, sagten sie, und Scott meinte: ›Okay, damit ist er weg vom Fenster.‹ Ich sagte noch: ›Moment mal, nicht so schnell, warte bis Tim und Charlotte da sind und einen Lagebericht liefern.‹ Die beiden kamen dann und sagten dasselbe wie ich. Scott und Neal machten also kehrt, um Kruse beizubringen, daß er absteigen mußte.«
Fischer, der nicht wußte, wie weit Boukreev gekommen war, und auch nicht Kontakt zu ihm aufnehmen konnte, da er ihm kein Funkgerät mitgegeben hatte, stieg verärgert ab. Wieder ein Abstieg! Alle Entfernungen zusammengerechnet, die er in den letzten Wochen zurückgelegt hatte, hätte er den Berg dreimal besteigen können.
Als ich den Eisbruch hinter mir hatte und über das Plateau des Western Cwm hinaufging, sah ich Scott und Dale Kruse auf mich zukommen (Beidleman war zum Lager II zurückgekehrt). Dale war in keiner guten Verfassung, und Scott schien angespannt und ziemlich mißmutig. Da ich sah, daß er unter Streß stand, und der Meinung war, sein Platz sei jetzt beim Team, bot ich an, Kruse zu begleiten, aber Scott sage, er wolle es lieber selbst tun.
Während ihrer kurzen Begegnung versuchte Boukreev Fischers Verfassung einzuschätzen. Aus welchem Grund auch immer er Antibiotika genommen hatte, die Schwierigkeiten schienen überwunden. Scott wirkte in keiner Weise beeinträchtigt.
Als sie sich trennten, blickte Boukreev das Western Cwm hinauf. Der Himmel hatte sich dramatisch verändert und schien in Flammen zu stehen, so intensiv waren die Rot- und Purpurtöne – mögliche Vorzeichen für einen Wetterumschwung. Er befürchtete eine Wiederholung von Scotts Erlebnis in Lager II: starke Winde, die ihr vorgeschobenes Basislager zerstören konnten. Das hätte einen Rückzug ins Basislager bedeutet, um zu warten, bis die Sherpas das Lager II wieder aufgebaut hätten. Das wäre eine weitere Verzögerung gewesen.
Gegen siebzehn Uhr dreißig, als Boukreev Lager II erreichte, saßen die anderen schon beim Abendessen. Unten hatte Fischer mit Kruse das Basislager erreicht. Laut Pete Schoening, der von sich aus bereits auf den Gipfel verzichtet hatte, »war Fischer zu Scherzen aufgelegt, trank ein Bier und wollte auch Dale eines anbieten.« Dr. Hunt fiel nichts auf, was Anlaß zu Besorgnis um Fischers Gesundheit gegeben hätte. »Er war wie immer. Ich sah kein Anzeichen dafür, daß er krank war.«
Zu Boukreevs Verwunderung und Erleichterung war das Wetter am 7. Mai ruhig und windstill, und die Temperatur, die in der Nacht bis auf minus 15 Grad gefallen war, stieg stetig und wärmte die Zelte. Während die Gruppe die relative Wärme genoß, durchstieg Fischer zum x-ten Mal den Eisbruch. Sein Zustand, am Tag zuvor im Basislager noch zufriedenstellend, verschlechterte sich auf einmal rapid.
Unweit des oberen Eisbruchendes traf er an den Fixseilen Henry Todd von Himalayan Guides. Zehn Jahre älter als Fischer und seiner eigenen Aussage nach am Berg viel langsamer, staunte Todd nicht schlecht, als er sah, daß
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