Der Gipfel
daß Fischers Wahl auf Ngima, einen Veteranen aus acht Everest-Expeditionen, gefallen war. Ngima wirkte für seine sechsundzwanzig Jahre sehr reif und hatte viel Humor. Er würde alle bei Laune halten, wenn die Expedition von den unvermeidlichen logistischen Pannen heimgesucht wurde. Was Lopsang betraf, war Boukreev nicht so sicher, ob er der richtige Mann war. Der Dreiundzwanzigjährige hatte Fischer 1994 bei seiner erfolgreichen Everest-Besteigung begleitet und 1995 mit ihm zusammen den Broad Peak bezwungen. 8 Boukreevs Befürchtungen galten vor allem Lopsangs Jugend.
Henry Todd kommentierte Fischers Entscheidung für. Lopsang folgendermaßen: »Sirdar wird man nicht von heute auf morgen. Man muß sich immer wieder bewähren, im Führen wie im Klettern. Lopsangs bergsteigerische Qualitäten waren über alle Zweifel erhaben. Aber bezüglich seiner Eigen schaften als Bergführer war ich mir nicht so sicher.« Todd befürchtete, daß ein junger Sirdar mit wenig Führererfahrung »eventuell alle möglichen Fehler macht und eine Riesenpleite verschuldet.«
Bei Tisch besprachen wir die vorrangigen Probleme – Sauerstoff und Höhenzelt – und teilten verschiedene Aufgaben wie Einkäufe und den Lastentransport ins Basislager unter uns auf. Ich sollte zusätzliche Kletterseile beschaffen. P. B. Thapa übernahm die Verpackung und den Transport der Vorräte zum Flughafen. Am 25. März sollten Ngima und ich mit der Fracht nach Shyangboche (3900 Meter) fliegen, wo Träger und Yak-Treiber alles übernehmen und ins Basislager bringen würden.
Ich war mit meinen Erledigungen rasch fertig, so daß mir bis zum Abflug etwas freie Zeit blieb, die ich vor allem mit Freunden aus Rußland verbrachte: mit Vladimir Bashkirov, einem renommierten Alpinisten, und Sergei Danilovi, einem Hubschrauberpiloten, der für Asian Airlines flog. Danilovi ist ein lustiger Kerl und ein Klasse Pilot. Fast täglich einen Gebirgszug zu meistern ist in meinen Augen ebenso gefährlich wie der Beruf eines Bergführers an den höchsten Bergen der Welt. Ich bewundere ihn sehr.
Das Zusammensein mit seinen russischen Freunden war für Boukreev eine Möglichkeit, etwas aus seiner Heimat zu erfahren und die Muttersprache sprechen zu können. Von nun an würde er im Basislager und während des Auf- und Abstiegs zwei Monate lang fast ausschließlich von Amerikanern und Sherpas umgeben sein, die sich auf Englisch verständigten. In den letzten zwei Jahren hatte er zwar fleißig an dieser Fremdsprache gearbeitet und seit seinen ersten Expeditionen mit Amerikanern und Engländern, bei denen sich die Verständigung auf Handzeichen und ein simples Ja und Nein beschränkte, beachtliche Fortschritte erzielt. Trotzdem entgingen ihm bei Witzen, Klatsch und Geplauder oft Kleinigkeiten und Pointen. »Bei einem Bergführer kommt es mehr aufs Klettern als aufs Reden an«, äußerte er sich einmal zu einem Freund. Im weiteren Verlauf der Expedition würde sich herausstellen, daß das nicht unbedingt stimmte.
Am Sonntagabend, bevor Ngima und ich von Kathmandu zum Everest fliegen sollten, traf ich mich wieder mit Scott zum Abendessen. Diesmal war Lene Gammelgaard dabei, die aus Dänemark gekommen war, einige Tage vor den anderen Kunden, die aus den Staaten eintreffen sollten. Als wir einander vorgestellt wurden, erklärte sie, wir seien uns schon einmal begegnet: Frühjahr 1991, im Dhaulagiri-Basislager. Ehrlich gesagt, konnte ich mich nicht erin nern, da uns damals mehrere Trekker aus Dänemark besucht hatten. Ich wollte aber nicht unhöflich sein und tat so, als würde ich sie erkennen. Scott, der mithörte, wußte, daß ich schwindelte, und sagte halblaut und mit breitem Lächeln zu mir: »Anatoli, du bist schon sehr sonderbar.« Er hielt es wohl für ausgeschlossen, daß man eine so auffallende Person wie Lene vergessen konnte.
Ich entschuldigte mich und ließ Lene und Scott allein, um zurück ins Hotel zu gehen und alles für den morgigen Flug vorzubereiten. Scott lag daran, daß ich vor ihm und den Kunden an Ort und Stelle war und die Sherpas beim Aufbau unseres Basislagers beaufsichtigte. Außerdem sollte ich alles Nötige für die Errichtung der Hochlager in die Wege leiten.
Am 25. März, kurz nach dem Mittagessen, nahm Boukreevs Freund Sergei die Mountain-Madness-Fracht sowie Boukreev und den Sherpa Ngima an Bord seines russischen Transport-Helikopters und hob ab. Für die Passagiere gab es weder Tee noch Kaffee oder Cocktails, aber auch keine Notfallübungen,
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