Der Gipfel
lassen.« Nur im engsten Kreis ließ Fischer sich zu dem Eingeständnis herbei, daß es vielleicht ein Fehler gewesen war, Sandy mitzunehmen. »Sie war schon ein starkes Stück. Kam sie nicht bis zum Gipfel, würde sie die Schuld ihm anlasten. Schaffte sie es, würde sie ihn mit keinem Wort erwähnen. Wir haben sehr eingehend darüber gesprochen.«
Meine Beziehungen zu den Team-Mitgliedern sollten sich erst im Lauf der Expedition entwickeln und sehr unterschiedlich sein. Durch unsere Makalu-Expedition vom Frühjahr 1994 kannte ich Neil Beidleman und Martin Adams recht gut, und für Lene Gammelgaard war ich so etwas wie eine Respektsperson. Sie hatte durch Michael Joergensen von mir gehört, der im Vorjahr mit Henry Todds Expedition als erster Däne den Everest bestiegen hatte. Lene war wie ich nicht aus den USA, was sie vom Rest der Gruppe gewaltig unterschied. Überdies war sie nicht besonders gut situiert und hatte nur einen Teil ihrer Expeditionskosten aufbringen können. Dies alles zusammen isolierte sie ein wenig von den anderen. Die Beziehung zu Charlotte Fox und Tim Madsen, die sich allmählich herauskristallisierte, beruhte auf unserer gemeinsamen Liebe zu den Bergen. Die anderen aus der Gruppe nahmen mir gegenüber eine eher vorsichtige Haltung ein. Pete Schoening und sein Neffe Klev, die ständig zusammensteckten, sonderten sich von den anderen ab. Für sie gab es zwischen einem russischen Bergsteiger und den Hochträgern wenig Unterschied. Vielleicht war ihre Reaktion auch eine Folge des kalten Krieges, der noch nicht lange zurücklag. Dazu kam, daß mein Englisch noch sehr zu wünschen übrig ließ und es Verständigungsschwierigkeiten gab. Ich war nicht imstande, die Initiative zu ergreifen, die von einem Bergführer erwarteten praktischen Ratschläge zu geben und dann auch noch darauf zu achten, daß sie befolgt wurden.
Am 13. April, einem Samstag, durchstieg die Mountain-Madness-Gruppe ohne Zwischenfall erneut den Khumbu-Eisbruch und gelangte ins Western Cwm (ausgesprochen kum), dessen Panorama die Weitwinkelobjektive von keinem Standort aus zu erfassen vermochten.
Das Western Cwm, ein leicht ansteigendes, mit Schnee und Eis bedecktes Gletschertal von vier Kilometern Länge, wird auf drei Seiten umgeben von den Verbindungsgraten und Gipfeln des Mount Everest, Lhotse und Nuptse, Hauptgipfeln des Everest-Massivs. Von hier aus hat man einen Blick, der einem vom Basislager aus versagt bleibt: der Everest-Gipfel – hochaufragend, majestätisch, stolz.
Lene Gammelgaard, deren Selbstvertrauen und unerschütterliche Gelassenheit manche als aufgesetzt empfanden, war von der Schönheit, die sich vor ihr auftat, überwältigt. »Ich halte mich für ziemlich hartgesotten, mich berührt nicht leicht etwas so tief.« Beim Anblick der geschwungenen, sanft ansteigenden Talsohle des Western Cwm und des Berges, dessen Besteigung ihr Ziel war, vergoß sie abseits von den anderen heimliche Tränen.
Eine halbe Gehstunde vom Endpunkt des Eisbruchs, auf dem Schnee und Eis des Western Cwm, hatten wir unser Lager I an einer Stelle aufgeschlagen, die ein wenig höher lag als vorgesehen. Auf dem Platz unserer Wahl drängten sich nämlich bereits die Zelte einiger anderer Expeditionen. Wir hielten den Standort jedoch für günstig und lawinensicher.
Da sie auf ihren Wasservorrat achten mußten und sich auf wärmen wollten, machten sich die Mountain-Madness-Kletterer gleich nach ihrer Ankunft in Lager I daran, Schnee über ihren Kochern zu schmelzen, die von den Zeltstangen hingen. Sandy Pittman, die über ihre Erlebnisse in Lager I in einer NBC-Internet-Aussendung berichtete, sagte, daß die Höhe ihrem Verstand so zusetze, daß sie die Beobachtung schmelzenden Schnees so unterhaltsam empfände »wie das Fernsehprogramm«. Sie fand auch Worte des Dankes für Lene Gammelgaard, die mit ihr ein Zelt teilte und aus ihrem Rucksack einen Leckerbissen nach dem anderen hervorzog, kleine Aufmerksamkeiten eines ihrer dänischen Sponsoren. Während man in den Nachbarzelten zu Fertigpackungen griff, die nur mit heißem Wasser aufgegossen werden mußten, vertilgten die beiden genüßlich Trockenobst und Nüsse und löffelten etwas in sich hinein, das Sandy als »exotisches Nomadengericht aus dem Mittleren Osten« definierte. Klettern in großen Höhen kann zu Appetitlosigkeit führen, ein Problem, von dem in Sandys Internet-Aussendung nicht die Rede war. Worauf auch immer die persönlichen Differenzen zwischen Lene und Sandy
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