Der Gipfel
Jümar, den man vor sich herschiebt. Zieht man den Jümar zum Körper (oder stürzt man rücklings ab), rastet der Blockiermechanismus ein. Im Zug-und-Druck-Rhythmus zieht man sich so Griff um Griff die Seile entlang.
Während man sich so den abgesteckten Kurs hinaufkämpft, hört man ringsum das Krachen, Splittern und Ächzen des Eises, das wie das Umfeld des Basislagers in ständiger Bewegung ist. Man betet darum, keines dieser Geräusche möge eine katastrophale Verschiebung ankündigen, etwa eine, die urplötzlich eine Spalte unter einer Leiter vergrößert oder einen kristallenen Turm von den Ausmaßen eines Bankpalastes auf die Route stürzen läßt.Fischer hatte seinen Kunden klargemacht, daß sie den Eisbruch von unten bis oben in weniger als vier Stunden durch steigen mußten, um sich für das Klettern in größeren Höhen zu qualifizieren. Das Ziel war hoch gesteckt, und Klev Schoening meinte dazu: »Die Vorspeise haben wir hinter uns, jetzt stecken wir mitten im üppigen Hauptgang!«
Die Anweisungen zur Bewältigung des Eisbruchs waren kurz und bündig. Anstatt »Gib acht auf dies!« oder »Gib acht auf das!« hieß es »Gib acht auf dich selbst!« und das war’s dann auch.
Für die meisten waren die ungemütlichsten Momente nicht der Hand-über-Hand-Aufstieg auf vertikalen Leitern, sondern das Queren der Gletscherspalten auf den zusammengebundenen Leitern. Man betritt die Leiter, die erste Sprosse, dann die nächste; mit hinderlichen, sich immer wieder verhakenden Steigeisen überwindet man stolpernd einen Eisschlund, der einen im Fall eines Fehltritts verschlingen würde, wäre man nicht korrekt gesichert. Dabei stellt man sich vor, wie man nach einem Absturz – falls man überhaupt gefunden wurde – leblos im Klettergürtel hängend hochgezogen wird.
Martin Adams sagte dazu: »Manche gingen im Spazierschritt glatt drüber, andere mußten kriechen. Ehrlich gesagt, brachten Sandy und Lene die Leitern ebensogut, wenn nicht besser hinter sich als alle anderen. Sie hatten ein gutes Gleichgewichtsgefühl und zeigten keine Angst.« Will man einen von Sandy Pittmans Internet-Aussendungen glauben, so entdeckte Charlotte Fox, daß »Porutschen« – sich auf der Kehrseite über die Leiter schieben – viel weniger furchteinflößend war als das Balancieren auf Steigeisen und der Blick in eine Eishöhle von den Ausmaßen eines Parkhauses. Am 10. Mai sollte Charlotte ihren neunundvierzigsten Geburtstag feiern. Sie freute sich auf den Tag.
Alle Teilnehmer schafften es in weniger als den von Scott geforderten vier Stunden. Ich freute mich ebenfalls, staunte aber, daß bei so vielen das Selbstvertrauen nicht ausreichte, um allein und ohne ständige Überwachung durch einen Führer zu klettern. Ich fürchtete, einige glaubten, ein Führer sei für sämtliche auftretenden Situationen zuständig. »Was wird sein, wenn niemand zum Händchenhalten da ist?« fragte ich mich.
Boukreev stellte für Mountain Madness die Everest-Gleichung auf. Faktoren waren sie alle: die Führer, die Kunden und die Sherpas. Wenn sie den Aufstieg bei gutem Wetter, bei bester Gesundheit und entsprechend akklimatisiert begannen, so dann die richtigen Entscheidungen trafen und die erwarteten Leistungen brachten, konnten alle wohlbehalten zurückkehren. Aber inwieweit konnte er auf die Fähigkeit seiner Kunden bauen, selbst auf sich zu achten und sich in kritischen Situationen richtig zu verhalten, wenn ihnen ihr Führer nicht ständig über die Schulter sah?
Boukreev brachte in diese Berechnung sein Training und seine Höhenerfahrung ein, Eigenschaften, deretwegen ihn auch Henry Todd im vorangegangenen Jahr angeworben hatte. »Als ich 1995 seine Zusage hatte, war er perfekt. Absolut super. Genauso wie er sein sollte. Ich kannte ihn und wußte, wozu er imstande war. Wenn etwas schiefging, wollte ich die Feuerwehr dort oben haben, die ganz schnelle Brigade.« Für Todd lag Boukreevs Wert in seiner Kraft und in der Sicherheitsgarantie, die er für eine Tour bedeutete. Gerieten Kunden in Bedrängnis, konnte er sie »holen und runterbringen«. Laut Todd war Boukreev aber kein »Kindermädchen«. Ihn für diese Rolle zu engagieren, hielt er für eine krasse Fehleinschätzung. »Dafür ist er zu schade. Das wäre ja schließlich so, als würde man die Kinder mit einem Rennwagen zur Schule fahren.«
Unsere Rückkehr über den Eisbruch verlief glatt, alle kehrten mit etwas mehr Selbstvertrauen ins Basislager zurück und freuten sich über
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