Der Gipfel
stellte Boukreev, der plötzlich sich selbst überlassen war, seine Entscheidung, bei Mountain Madness mitzumachen, kritisch in Frage. Noch nie hatte er eine Expedition mit so viel Medienrummel, Publicity-Getue, übertriebenem Luxus und taktischem Hin und Her erlebt.
Meine Erfahrung und das unsichere Wetter über 8000 Meter veranlaßten mich, unsere Chancen abzuschätzen. Was würde passieren, wenn wir in extremer Höhe in eine kritische Situation gerieten? Würde meine Kraft und die von Scott, Neal und den Sherpas ausreichen, um alle auftretenden Probleme zu bewältigen?
Unsere Teilnehmer hatten gut daran getan, zeitig am Morgen zum Lager I aufzubrechen, da sich im weiteren Tagesverlauf das Wetter verschlechterte und es bei Einbruch der Dunkelheit in großen Flocken zu schneien begann. Nur Sandy war dem Schnee länger ausgesetzt, da sie aber über Everest-Erfahrung verfügte, hielt ich sie nicht für ernsthaft gefährdet.
Bei Tagesanbruch des 18. April waren über fünfzehn Zentimeter Schnee auf Lager I gefallen, in dem die Kletterer genächtigt hatten. Bei Sonnenaufgang hatte es jedoch zu schneien aufgehört, und man entschied sich, zum Lager II aufzusteigen und dort die Nacht über zu bleiben. Boukreev sah sich seine Schützlinge an und fand, daß alle gutes ›samochuvstvie‹ zeigten.
Wir Führer, jeder mit einem kleinen Rucksack beladen, stapften mit unserem Team durch den frischen Schnee, Charlotte und Lene waren an diesem Tag langsamer als die anderen, aber Sandy war munter und gut in Form. Ihr einziges Problem war ihr hartnäckiger Husten, der wie bei Neal durch die trockene Bergluft noch verschlimmert wurde.
Nachdem er sich an der Reihe der Aufsteigenden entlang nach vorne gekämpft hatte, schaffte Boukreev es in weniger als drei Stunden bis zu der Stelle, zu der die Sherpas schon alles für Lager II transportiert hatten. An den Fuß des Everest geschmiegt, befand sich das Lager auf einer Geröllfläche, deren Gesteinsbrocken die zermalmende Kraft des Gletschers hier abgeladen hatte. Am Morgen würden die windgeschützt stehenden Zelte von der Sonne angenehm gewärmt werden, am Nachmittag in der Hitze schmoren.
Bei ruhiger Schönwetterlage und geringer Luftbewegung ist in Lager II die Sonneneinstrahlung zu Mittag sehr stark und kann zu Dehydrierung und Mattigkeit führen. Um dieser Gefahr zu entgehen, suchte ich mir nach meiner Ankunft lieber eine Beschäftigung und half den Sherpas beim Aufstellen des Essenszelts. Während ich arbeitete, trudelten unsere Leute ein, einer nach dem anderen, die ersten in einer Gruppe und schließlich die letzten etwa dreihundert Meter dahinter.
Als die Teilnehmer ankamen, war Boukreev mit den Sherpas noch bei der Arbeit. Als dann aber das Gemeinschaftszelt stand, verteilten sich die Sherpas und halfen den Leuten beim Aufstellen ihrer persönlichen Zelte. Boukreev, der mit einigen der Sherpas schon im Basislager zusammengearbeitet hatte, staunte über den Eifer, mit dem sie in der Hoffnung auf ein Trinkgeld nach beendeter Expedition »gute Arbeit« demonstrierten.
Da er kein »Konkurrent sein wollte, der ihr Brot für sich beanspruchte«, und ihn der rasche Aufstieg an den anderen Kletterern vorüber ermüdet hatte, goß Boukreev sich heißen Tee ein und ließ sich auf einem Felsblock nieder, um auszuruhen.
19 Trotz gegenteiliger Beweise sind manche Bergsteiger noch immer der Meinung, daß vorbeugende Einnahme von Diamox die Akklimatisation beschleunigt.
Mitglieder Mountain-Madness-Expedition und Sherpas, 1996. Expeditionsmitglieder, unterste Reihe (von links nach rechts): Scott Fischer, Charlotte Fox, Lene Gammelgaard (direkt hinter Fox); oberste Reihe (von links nach rechts): Neil Beidleman, Dale Kruse, Klev Schoening, Sandy Hill Pittmann, Martin Adams, Anatoli Boukreev, Tim Madsen (weiter rechts mit Mount-Everest-Strickmütze), Lopsang Jangbu Sherpa (mit schwarzer Baseballmütze).
(Foto © Anatoli Boukreev)
Lager IV (7900m) auf dem Südsattel.
(Foto © Anatoli Boukreev)
Anatoli Boukreev, Mount Everest 1996
Mitglieder der Mountain-Madness-Expedition im Khumbu-Eisbruch. (Foto © Anatoli Boukreev)
Mountain Madness-Lager I (6100m)
(Foto © Anatoli Boukreev)
Blick abwärts über das Western Cwm und die Lager I (6100m), II (6500m), und II (7300m)
9. Kapitel Lager II
Als die Sonne hinter dem Everest unterging und die Temperaturen in den letzten Stunden des Tages stark sanken, schlüpften die Kletterer in den engen Zelten in ihre
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