Der Gipfel
Gruppe auf den Weg. Boukreev stieg langsam an der Spitze, ständig auf der Hut vor schmalen Spalten, die unter der dünnen Schneeschicht, die in der Nacht gefallen war, kaum auszumachen waren. Nach zwei Stunden wurde das Gelände steiler, und Boukreev bog von der markierten Route nach links ab und wählte einen flacheren An stieg, auf dem sie die restlichen dreihundert Meter bis zum Beginn der Fixseile in der Lhotse-Flanke zurücklegten.
Nach etwa dreißig Metern auf dieser neuen Route fiel mir in einiger Entfernung etwas Ungewöhnliches auf, etwas Dunkles, das aus dem Schnee ragte. Erst hielt ich es für ein Ausrüstungsteil, das bei einer früheren Expedition von einem Hochlager heruntergefallen war. Als ich näherkam, bemerkte ich ein Steigeisen an Kletterschuhen und dann die untere Hälfte eines menschlichen Körpers. Wer war das? Welche Tragödie hatte sich hier ereignet? Ich vermutete, daß es sich um einen Bergsteiger handelte, der vor einigen Jahren vom Lhotse abgestürzt war. Sein Leichnam war schließlich, entstellt und verstümmelt durch den tiefen Sturz über felsiges Gelände, an dieser Stelle liegen geblieben.
Boukreev, der seinen Rucksack abnahm, stand reglos da und blickte auf den Toten hinunter, während die anderen nichts ahnend nachkamen.
Durchdrungen von der Ewigkeit und Majestät der Berge kam mir unwillkürlich eine Sitte der alten Römer in den Sinn. Beim Festmahl nach einer siegreichen Schlacht öffneten sich am Höhepunkt des Gelages nach köstlichen Speisen und Musik die Türen des Saales, und die Gefallenen wurden hereingetragen. Es folgte ein Augenblick ernster Besinnung, in dem allen vor Augen geführt wurde, welch hohen Preis der Sieg gekostet hatte.
War unsere Gruppe, die langsam näherkam in der Lage, ihre Fähigkeit für die Gipfelbesteigung objektiv einzuschätzen? Dank der Sherpas, die sämtliche Lasten heraufbefördert hatten, war uns allen noch vor wenigen Stunden ein Grad an Bequemlichkeit vergönnt gewesen, der vielen Menschen geradezu luxuriös erschienen wäre. Unsere Mittel und Möglichkeiten machten uns zwar zu Privilegierten, waren aber noch lange keine Sicherheitsgarantie. Wenn alles gutging, würden wir in wenigen Wochen auf unserem Weg zum Gipfel wieder diese Stelle passieren. In über 8000 Meter Höhe, wo die dünne Luft jeden Fehler vervielfacht, wo ein Schluck heißer Tee aus einer Thermosflasche zwischen Leben und Tod entscheidet, kann auch noch soviel Geld den Erfolg nicht gewährleisten.
Natürlich hatte jeder von uns den Ehrgeiz, den Gipfel zu erreichen, die Hindernisse zu bewältigen und eine von vielen als unmöglich angesehene Leistung zu vollbringen. Aber heutzutage ist der Preis für die Besteigung des Everest wohl ein ganz anderer. Immer mehr Menschen scheinen bereit zu sein, eine bestimmte Geldsumme für die Gipfelchance zu bezahlen, nicht aber den körperlichen Preis für die notwendige Kondition. Die kann man nur durch ein allmähliches Sich-Steigern, körperlich und geistig, erreichen – von niedrigen, leichteren Gipfeln bis zu anspruchsvolleren und schließlich zu Achttausendern. Ist ein solcher Prozeß nicht schon Erfüllung an sich, fragte ich mich, oder hat der Einsatz von Sauerstoff, ausgefeilter Technik und bezahlten Dienstleistungen, die es auch dem nur unzulänglich Trainierten ermöglichen, in immer größere Höhen vorzudringen, das Höhenbergsteigen für immer verändert?
Beidleman kam mit den anderen näher, und sie sahen den Toten. »Es wurde nicht viel gesprochen. Jeder bewältigte es auf seine Weise. Ich empfand das Schweigen als respektvoll, vielleicht sogar als lehrreich«, erinnerte sich Boukreev.
Als Bergführer von Mountain Madness war Boukreev Mitspieler in einem Spiel, das ihm zunehmend fragwürdiger erschien. Er war mit einer Gruppe unterwegs, deren Fähigkeiten bei weitem nicht an seine heranreichten. Er wußte, daß ihre Sicherheit seine vorrangige Aufgabe war, hatte jedoch auf manches keinen Einfluß. So gab ihm Pete Schoenings Kondition Anlaß zu Besorgnis, da dessen Höhenprobleme allmählich seine Leistung beeinträchtigten. Aber nicht nur Petes gesundheitliche Verfassung konnte zu einem Risiko werden, sondern auch das Sauerstoffproblem. Mountain Madness hatte sich ausreichend mit Sauerstoffflaschen eingedeckt und noch einen Vorrat für unvorhergesehene Fälle dazugekauft. Allerdings hatte Pete bereits im Basislager angefangen, auch in der Nacht Sauerstoff zu benutzen, was an sich nicht üblich war. Wenn das so
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