Der gläserne Drache
redselige Wigo auffallend schweigsam. Er wich den Blicken der anderen aus und wagte schon gar nicht, Tamira anzusehen.
Anina hatte der Schwester nichts von sich und Tanis erzählt, um in ihr nicht Hoffnungen zu erwecken, die sich dann vielleicht nicht erfüllten.
So zogen sich alle nach dem Mahl bald in ihre Räume zurück.
*****
Am nächsten Morgen, bevor sie zum Frühstück gingen, sagte Wigo zu Tanis:
„Du solltest allein zu Mendor gehen, denn ich habe nicht vor, den König um die Hand von Tamira zu bitten. Ich mag sie sehr und liebe sie wie eine Schwester, und ich werde sie sehr vermissen, wenn wir uns jetzt trennen müssen. Und tiefer verbunden als mit ihr, wenn wir die Kette oder den Kreis bilden, könnte ich – außer mit dir – mit niemandem sein.
Aber mich jetzt schon in einer Ehe zu binden, ist etwas, das ich nicht kann! Wir waren so lange unter Romandos Zwang, dass ich meine eben erst wiedergewonnene Freiheit erst eine Weile genießen möchte.
Bedenke doch, welch herrliches Leben uns erwartet! Rauschende Feste, Turniere, Jagden – soll ich mich ständig von einer Frau beobachten und womöglich maßregeln lassen, weil ihr mein Tun missfällt?
Nein, Bruder, für dich mag das kein Problem sein, aber mir käme es vor, als habe man mir einen Mühlstein ans Bein gebunden.
Ich bin erst neunzehn Jahre alt, und ich denke, es hat noch eine Weile Zeit damit, dass ich mich verheiratete.“
„Erst neunzehn Jahre?“ fragte Tanis mit gerunzelter Stirn. „Die meisten Männer sind in unserem Alter schon längst verheiratet, und Dormas war schon zum ersten Mal Vater geworden und unsere Pflegeeltern erwarteten bereits ihr zweites Kind.
Tamira ist sechzehn Jahre alt und damit in einem Alter, in dem die meisten Mädchen verheiratet werden. Soll sie eine alte Jungfer werden und warten, bis du bereit bist, Verantwortung für dein Land und für eine Familie zu übernehmen?
Gewiss, unser richtiger Vater Prios war schon fast dreißig Jahre alt, als wir beide zur Welt kamen. Aber du weißt mittlerweile, dass unsere Mutter des Vaters zweite Frau war, da seine erste Gemahlin nach der dritten Fehlgeburt mit ihrem Kind im Kindbett starb.
Nun, aber niemand kann dich zwingen, Tamira zu heiraten, wenn du selbst es nicht willst. Doch ich glaube, du machst einen großen Fehler, denn eine Frau wie sie wirst du so schnell nicht wieder finden!“
Verärgert drehte er sich um und verließ das Zimmer, ohne auf Wigo zu warten. Es kam nur selten vor, dass die Zwillinge sich stritten, aber diesmal war Tanis entsetzt über die leichtfertige Art seines Bruders.
Und er war traurig für Tamira, deren Liebe zu Wigo wohl hoffnungslos schien.
Trotzdem nahm er sich vor, beide Mädchen mit nach Torgard zu nehmen. Wenn Anina und er heirateten, konnte Tamira als Schwester der Fürstin jeden Mann erwählen, denn sie wollte, und brauchte sich nicht einer von der Königin getroffenen Wahl zu beugen.
Und er war es auch Anina schuldig, die wohl mit dem weiteren Verbleib ihrer Schwester am Hofe Mendors nicht einverstanden gewesen wäre.
So ging er nach dem Frühstück zu Mendors Arbeitszimmer. Er bat die Wachen, für ihn um eine Audienz beim König zu bitten.
Wenige Minuten später saß er bereits vor dem großen Schreibtisch. Mendor schaute ihn erstaunt und fragend an.
„Was führt dich zu so früher Stunde zu mir, Tamao?“ fragte er. „Ich dachte, alles wäre bereits zu eurer Zufriedenheit geklärt.“
„Geklärt ja, doch zu unserer Zufriedenheit?“ antwortete Tanis. „Ich bin zwar gewiss, dass Ihr alles, was Ihr bestimmtet, mit den besten Absichten tatet.
Doch habt Ihr uns je gefragt, ob es das ist, was auch wir uns wünschen würden?“
Der König runzelte die Stirn. „Seit wann muss ich meine Untertanen fragen, ob ihnen meine Entscheidungen recht sind?“ fragte er ärgerlich.
„Was an dem, was ich anordnete, gefällt dem jungen Herrn denn nicht? Was könntest du mehr verlangen, als dass du als Herrscher dein Erbe antreten kannst?“
„Ich bitte Euch hiermit offiziell um die Hand Aninas!“ sagte Tanis fest. „Wir lieben uns, und ich möchte, dass diese schöne und kluge Frau an meiner Seite Torgard regiert.
Ich bitte euch daher, die beiden Mädchen mit mir gehen zu lassen, da Tamira ohne ihre Schwester wohl nicht an Eurem Hof bleiben möchte.“
„Du willst ein Bauernmädchen zur Fürstin erheben?“ Mendor war total bestürzt. „Wer hätte je ein solches Ansinnen
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