Der gläserne Sarg
schriftlichen Bericht will? Na ja, jeder hat so seine besonderen Macken.
»Ich wurde heute morgen in das Central Community Hospital gerufen. Dort hat man vorgestern gegen dreiundzwanzig Uhr einen Jungen eingeliefert … Einen Streuner. Sie kennen ja diese Burschen, die kein Zuhause haben und heute in dieser Ruine, morgen in jenem Schuppen übernachten und größtenteils vom Diebstahl leben. Er war brutal zusammengeschlagen worden … Eine Polizeistreife hatte ihn bewußtlos gefunden und ihn ins Krankenhaus eingeliefert. Als er gestern abend wieder zu sich gekommen ist, bat er die Krankenschwester, den Brief aus seiner Jacke zu nehmen und ihn abzuliefern – er war ja ans ›Globe-Theater‹ adressiert.«
»Weiß ich«, drängt Jacklow.
»Aber anscheinend war die Dame nicht so sehr von der Wichtigkeit des Briefes überzeugt … Na ja, was soll so ein Bursche schon Dringendes mit sich führen? … Jedenfalls muß der Junge sein Anliegen heute morgen bei der Visite wohl nochmals dem Arzt vorgetragen haben – der hat es dann endlich der Verwaltung gemeldet und die dort haben unser Polizeirevier angerufen. Man hat dann mich beauftragt, der Meldung nachzugehen … ich bin nämlich der Dienstälteste auf der Station.« Diesen Hinweis mußte Fielding anbringen, jetzt ist ihm wohler. Er lauert.
Doch Jacklow und der Lieutenant lassen nicht erkenne, ob sie die Bedeutung dieser Mitteilung auch richtig zu würdigen wissen. Sie warten offensichtlich darauf, daß der Sergeant mit seinem Bericht fortfährt. Dieser unterdrückt seine Enttäuschung – diese aufgeblasenen Schreibtischhengste, denkt er – und beschließt, weiter zu berichten:
»Als ich die Adresse des Briefes las, fiel mir sofort ein, daß ich heute morgen von dem Mordfall im ›Globe-Theater‹ gelesen hatte. Ich vermutete also, daß es sich um eine wichtige Nachricht handeln könne.«
»Und mit dem Jungen haben Sie nicht gesprochen?« unterbricht Collin.
»Aber was denken Sie denn von mir, Lieutenant. Ich wollte es gerade erzählen. – Also, das Kind … es ist gerade vierzehn Jahre alt … ist übel zugerichtet. Noch ein paar mehr von den Schlägen, die er abbekommen hat, und er wäre hinüber gewesen. Er konnte kaum sprechen – bei den vielen Zähnen, die ihm ausgeschlagen worden waren.«
»Was erfuhren Sie, Sergeant … Bedenken Sie, wir haben es mit einem Doppelmord zu tun.« Jacklow wird ungeduldig.
Das sind vielleicht Ignoranten, beruhigt sich Fielding im stillen. Da haben Sie endlich mal einen Polizeibeamten vor sich, der auf jede Kleinigkeit achtet, und dann trifft man auf solch oberflächliche Kollegen. Die hätte ich gerne mal als blutige Anfänger in meinem Dienstbereich. Denen würde ich schon die Flötentöne beibringen. Aber mich werden die nicht aus der Ruhe bringen.
»Wie gesagt, der Junge konnte kaum sprechen«, betont er nochmals. »Sein Gestammel war schlecht zu verstehen. Doch es gelang mir, alles zu rekonstruieren. Danach hat ihm ein Mann am Dienstagabend – also vorgestern – am Eingang des Lindblom Parks – Sie wissen sicher, das ist in der Nähe einer Station der B&O Central Railroad, wo sich oft lichtscheues Gesindel herumtreibt – das Kuvert und gleichzeitig 50 Dollar übergeben. Er solle den Brief sofort ins Theater bringen. Aber offensichtlich haben andere Herumstreuner dies beobachtet – 50 Dollar sind ja in solchen Kreisen ein Vermögen – und ihm das Geld auf die brutalste Weise abgenommen. Sein Fehler war wahrscheinlich, daß er sich gewehrt und den Schein nicht freiwillig rausgerückt hat. Jetzt ist er nicht nur das Geld los, sondern liegt auch noch im Krankenhaus.«
»Haben Sie sich den Mann beschreiben lassen?« Jacklow ist solche psychologischen Ausschweifungen nicht gewohnt.
»Gewiß, Sir … Aber da ist nicht viel dabei herausgekommen. Der Mann trug einen schwarzen Anzug und einen hellen Hut.«
»Haarfarbe?«
Fielding stutzt. »Danach habe ich nicht gefragt«, meint er zunächst entschuldigend, doch nach einer kleinen Pause fährt er mit erhobener Stimme fort: »Inspector, wie soll die Haarfarbe zu erkennen gewesen sein, wenn der Mann doch einen Hut trug.«
»Sie mögen recht haben«, pflichtet ihm Jacklow bei. »Doch fragen sollte man den Jungen bei Gelegenheit noch mal. – Und wann wurde der Brief übergeben?«
»Auch danach habe ich mich selbstverständlich erkundigt. Aber solche Leute leben sorglos in den Tag hinein. Ich will sagen, der Junge hatte keine Armbanduhr. Er kann also nicht genau sagen,
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