Der gläserne Schrein (German Edition)
müssen. Vielleicht lag es an dem Übermaß an Freude und Glück, das von ihren Eltern ausging. Nicht dass sie es ihnen neidete, im Gegenteil. Sie gönnte es ihnen von Herzen. Ihre eigene Ehe war nicht wirklich unglücklich gewesen, es hatte ihr nur an jener tiefen Liebe und innigen Partnerschaft gefehlt. Zwei Faktoren, auf die sie auch in Zukunft nicht würde setzen können, denn erstens hätte sie gar keinen Mann benennen können, für den sie nur annähernd so etwas wie Zuneigung empfand, und zweitens wurden Ehen in den allerseltensten Fällen aufgrund von Gefühlen geschlossen. Vielmehr standen der Fortbestand der Familie und der des Geschäfts im Vordergrund. Auch sie würde früher oder später zu einem Entschluss kommen müssen, was die Schreinwerkstatt betraf. Der einfachste – und vermutlich sinnvollste – Weg wäre es, einen ihrer Gesellen zu heiraten. Heyn war nicht nur über zwanzig Jahre älter als sie, sondern schien auch kaum Interesse an weiblicher Gesellschaft zu haben. Er kam also nicht in Frage. Blieb noch Leynhard Sauerborn, der ihr im Alter wesentlich näher stand und auch äußerlich ein ganz passables Mannsbild war. Hochgewachsen, etwas schlaksig, mit schwarzem Haar und gutmütigen braunen Augen. Leider ließ sein Verstand ein gewisses Maß an Wendigkeit vermissen. Zwar war er als Schreinbauer sehr geschickt, doch weder über den Reliquienhandel noch über andere ernsthafte Themen konnte sie sich mit ihm unterhalten, ohne ihm die Sachverhalte mehrfach erklären zu müssen.
Seufzend drehte sie sich auf die Seite und legte ihr Kissen unter dem Kopf erneut zurecht. Leynhard wäre immer noch die bessere Wahl gegenüber Gort Bart, dem Gesellen ihres Vetters. Hartwig war ehrgeizig; er stand kurz davor, zum obersten Zunftgreven der Schreiner gewählt zu werden. Gort war über Hartwigs Mutter mit ihm verwandt, und so rechnete sich Hartwig natürlich aus, dass eine Eheschließung mit Marysa ihre Werkstatt in Reichweite seines Besitzes bringen würde. Gort, der auch nicht sonderlich intelligent war, würde sich in allen Dingen von Hartwig führen lassen, was mit einer Übernahme der Werkstatt durch Hartwig so gut wie gleichzusetzen wäre.
Aber dazu würde es ganz gewiss nicht kommen. Eher würde sie die Werkstatt schließen, als Gort Bart auch nur in die Nähe ihres Bettes gelangen zu lassen. Sie wusste sehr genau, dass es ihn danach gelüstete.
Um sich von diesen unseligen Gedanken abzulenken, begann sie, Pläne für den nächsten Tag zu schmieden, da sie am Nachmittag Meister Fábián erwartete. Während sie überlegte, ob sie ihn als Lieferanten für die zahlreichen ungarischen Pilger gewinnen konnte, die vor allem in den Sommermonaten die Stadt aufsuchten, schlief sie endlich ein.
3. KAPITEL
«Hat man so was schon gehört?», regte Jolánda sich zwei Tage später auf, als sie in Marysas Stube saß und mit flinken Fingern eine Stickerei auf einem Kissenbezug anfertigte. «Meister Hont ist höchstpersönlich in unser Haus gekommen, um Bardolf die Nachricht zu überbringen. Ausgerechnet Ansem Hyldeshagen soll Bardolfs Arbeiten an den Schlusssteinen in der Chorhalle übernehmen. Dabei weiß jeder, dass Ansem und Bardolfs Vater im Streit miteinander lagen. Das wird dem alten Zwist doch nur Wasser auf die Mühlen gießen, sagte ich. Aber Meister Hont besteht darauf, weil Ansem der Einzige ist, der es in der Kunstfertigkeit mit Bardolf aufnehmen kann. Und die Chorhalle muss fertig werden. Bis zur Einweihung wird das sowieso schon nicht mehr ganz zu schaffen sein. Aber stell dir vor, der Weihbischof kommt mit seinem Tross und muss die Feier in einer Halle ohne Vergoldungen vornehmen. Das wäre doch eine Schande! Ganz zu schweigen von den vielen Pilgern, die das Marienstift zu den Feierlichkeiten erwartet.»
Marysa nickte. «Also muss jemand für Bardolf einspringen, solange sein Fuß nicht verheilt ist.»
«Aber doch nicht ausgerechnet Ansem», protestierte Jolánda erneut. «Er wird versuchen, auch die anderen Goldarbeiten an sich zu reißen.»
«Das kann ich mir nicht vorstellen», widersprach Marysa. «So lange wird Bardolf doch nicht ausfallen. Sobald er richtig laufen kann, wird er die Arbeiten wieder übernehmen.» Bevor sich ihre Mutter noch weiter aufregen konnte, fragte sie: «Wie geht es eigentlich Piet? Heilt seine Wunde gut?»
Jolánda schüttelte betrübt den Kopf. «Leider nicht. Er hat seit gestern leichtes Fieber, und ich fürchte, die Wunde wird brandig. Magister Bertolff hat
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