Der gläserne Schrein (German Edition)
man ihm die vielen Jahre, die er als Gassenjunge verbracht hatte, noch immer deutlich an. «Aber es muss wirklich so gewesen sein. Bruno hat sich das nicht ausgedacht.»
«Nun, wenn es sich tatsächlich so zugetragen haben sollte, dann hatte Meister Goldschläger gewiss einen guten Grund, sich aufzuregen», befand Marysa, die sich jedoch insgeheim wunderte. Bardolf neigte eigentlich nicht dazu, gewalttätig zu werden. Vielleicht sollte sie kurz bei ihrer Mutter nach dem Rechten sehen. Das Wetter an diesem Mittwochmorgen war zwar kalt, aber freundlich. Wie geschaffen für einen kurzen Spaziergang. Auf dem Rückweg würde sie beim Marienstift vorbeigehen und fragen, ob Scheiffart noch einen Auftrag für sie hatte.
«Wo ist nun der Wein?», wiederholte sie ihre Frage.
«Nicht da», antwortete Jaromir. «Herr Gomprecht sagte uns, dass seine Lieferung noch nicht angekommen sei. Aber er gibt Euch Bescheid, sobald er den Wein im Lager hat.»
Diese Nachricht war nun wirklich ärgerlich. Marysas Weinvorrat ging allmählich zur Neige, und für die nächsten Tage hatte sie die anderen Reliquienhändler eingeladen. Das war wohl ein Grund mehr, in der Kockerellstraße vorbeizuschauen. Vielleicht konnte ihre Mutter ihr ein Fässchen Wein aus ihrem Keller bringen lassen.
«Jaromir, geh in den Stall und hilf Grimold beim Ausmisten», befahl sie. «Milo, du begleitest mich zum Haus meiner Mutter.»
***
«Aber selbstverständlich lasse ich dir von Tibor ein Fässchen Wein hinüberbringen!», antwortete Jolánda wenig später auf Marysas Frage hin. «Was wohl Gomprechts Lieferung aufgehalten haben mag? Hoffentlich keine Wegelagerer!»
«Das hoffe ich ebenfalls», sagte Marysa. «Vielleicht gab es ja nur Probleme mit dem Transport. Nach dem Regen der letzten Tage sind die Straßen und Wege vermutlich in einem schauderhaften Zustand.»
«Stimmt. Selbst in der Stadt kann man kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen», klagte Jolánda. «Ich habe mir gestern schon das zweite Paar Schuhe verdorben, trotz der Holztrippen.» Sie zuckte mit den Schultern. «Aber das Wetter wird sich ändern. Die Wäscherin Lise, Milos Mutter, hat mir gesagt, dass der Wind gedreht hat. Es wird ein Unwetter und danach Frost geben.»
Marysa schmunzelte. «Na, sie muss es ja wissen.»
«Allerdings!» Jolánda tat beleidigt. «Sie hat ein Gespür für das Wetter. Und sie sagt, wenn ihr die Fingergelenke wehtun, gibt es Sturm.»
Marysa ging nicht weiter darauf ein. «Wo wir gerade von Sturm sprechen», wechselte sie stattdessen das Thema, «ich hörte, es gab heute früh einen Zwischenfall im Zunfthaus?»
«Einen Zwischenfall?» Grimmig verzog Jolánda ihren Mund. «Eine Unverschämtheit, die hat es gegeben. Meister Hont hat Bardolf nun tatsächlich vorläufig die Arbeiten in der Chorhalle entzogen und Hyldeshagen damit betraut, obwohl es Bardolfs Fuß schon wieder viel bessergeht. Er wollte sich heute zurückmelden, aber Hont meinte, er müsse sich noch schonen. Die Zunftgebote schrieben vor, dass ein Meister keinerlei körperliche Beeinträchtigungen haben dürfe. Schon gar nicht, wenn er, wie in der Chorhalle, auf diesen hohen Gerüsten arbeiten muss.»
«Ganz unrecht hat er damit nicht», wagte Marysa einzuwenden, fing sich damit aber einen wütenden Blick ihrer Mutter ein.
«Du kennst Hyldeshagen nicht. Wenn er einmal den Auftrag an sich gerissen hat, wird er alles daransetzen, ihn auch zu behalten.»
«Und wie lange wird es dauern, bis Bardolfs Fuß wieder vollständig geheilt ist?», fragte Marysa vorsichtig nach.
Jolánda seufzte. «Nur ein paar Tage, denke ich.»
«Dann wird es schon nicht so schlimm kommen.»
«Hoffentlich.» Der grimmige Ausdruck kehrte in Jolándas Gesicht zurück. «Dieser Auftrag ist nämlich Gold wert – und das meine ich wörtlich, Marysa!»
4. KAPITEL
«Gute Arbeit», lachte die Stimme hinter dem Vorhang. Dann plätscherte Wasser aus einem Krug in eine Waschschüssel. «Auf diese Weise schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe.»
«Der Zufall hat uns in die Hände gespielt», antwortete die zweite Stimme.
«Papperlapapp!», erwiderte die erste, nun in strengem Tonfall. «Das war kein Zufall, sondern ein Wink des Allmächtigen. Daran werdet Ihr doch wohl nicht zweifeln?» Der Krug klirrte leise, ein Mann schob den Vorhang beiseite und trat nun – sauber rasiert – auf seinen Gesprächspartner zu. «Wie es aussieht, brauchen wir nur noch ein Weilchen abzuwarten und den richtigen Zeitpunkt
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