Der gläserne Schrein (German Edition)
Klappergasse einbiegen, als er aus der Richtung des Augustinerklosters das Schreien eines Säuglings vernahm. Unwillkürlich blieb er stehen und sah sich um. Ein paar Schritte vom Kloster entfernt, vor dem Eingang eines der Wohnhäuser des Marienstifts, stand eine pausbäckige junge Frau und bemühte sich erfolglos, den kleinen Schreihals zu beruhigen.
Um Christophorus’ Mundwinkel zuckte es. Er wollte schon auf sie zugehen und ihr ein paar aufmunternde Worte sagen, als sich die Tür vom Stiftshaus öffnete. Eine weitere Frau trat auf die Gasse. Sie nahm der Pausbäckigen das Kind ab und brachte es alsbald durch Hätscheln und leises Zureden zum Schweigen.
Christophorus starrte sie sprachlos an. Aber nein, er täuschte sich nicht. Die Frau in dem dunkelbraunen Samtsurcot, der ein zartgelbes Unterkleid hervorblitzen ließ, war eindeutig Marysa Markwardt. Ihre rotbraunen Locken hatte sie in einer zum Kleid passenden Haarnetzhaube gebändigt. Sie sagte etwas zu der Pausbäckigen – offenbar die Amme des Kindes –, und beide Frauen lachten herzlich.
Christophorus’ Herz schlug plötzlich schneller. Rasch, damit sie ihn nicht sah, drehte er sich um und führte sein Maultier in die Klappergasse. Gleichzeitig ärgerte er sich, dass er sie nicht gleich angesprochen hatte. Ein zufälliges Zusammentreffen auf der Straße war allemal besser, als offiziell bei ihr vorzusprechen und sie nach ihrem Wohlbefinden zu fragen. Doch ihre Erscheinung hatte ihm tatsächlich für einen Moment den Atem geraubt. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals so fröhlich lachen gesehen zu haben, noch dass ihr Aussehen ihn dermaßen beeindruckt hätte. Sie war nicht hübsch in seiner Erinnerung – hässlich zwar auch nicht, aber eher fade und nichtssagend. Außer … ja, außer, wenn sie sang. Zweimal hatte er die Verwandlung miterlebt, die Lautenspiel und Gesang bei Marysa auslösten. Dann – und nur dann – wurden ihre Gesichtszüge zart und lieblich. Aber jetzt – was war geschehen? Sie war noch immer dieselbe Frau, sonst hätte er sie ja nicht sofort erkannt. Doch da war etwas … Er runzelte die Stirn, dann kam die Einsicht. Es waren ihre Kleider! Sie hatte damals immer ausgesprochen hässliche und geschmacklose Kleider getragen, in Farben, die weder zu ihrem Teint noch zueinander gepasst hatten. Er hatte sich immer gefragt, weshalb ihre Mutter, die über einen ausgezeichneten Geschmack verfügte, ihr in derlei Dingen nicht besseren Rat gab.
Offenbar hatte sie dies nun nachgeholt.
Und dann das Kind …
Das war wohl noch eher als Marysas Erscheinung der Grund für sein Zurückschrecken gewesen, gestand Christophorus sich ein. Er hatte nicht erwartet, sie als Mutter eines Säuglings anzutreffen. Aber der Schluss lag nahe, dass sie sich seinen Rat wohl zu Herzen genommen und alsbald nach dem Tode ihres Gemahls erneut geheiratet hatte. Der Größe des Säuglings nach konnte er erst wenige Monate alt und somit auf keinen Fall Reinold Markwardts Kind sein. Auch hatte Christophorus bei seinem Weggehen keinerlei Anzeichen einer Schwangerschaft Marysas wahrgenommen.
Nachdenklich bog er in die St.-Jakob-Straße ein und erblickte schon von weitem den zweigeschossigen Konvent der Dominikaner. Zögernd blieb er stehen.
***
«Ihr habt ein Händchen für den kleinen Éliás», sagte die Amme mit einem breiten Lächeln. «Fast wie seine Mutter.»
Marysa lächelte ebenfalls und hauchte dem Kleinen einen Kuss auf die Nasenspitze, woraufhin er leise gluckste. «Ich weiß, Geli. Manchmal fühle ich mich auch gar nicht wie seine Schwester, sondern vielmehr wie seine Tante. Aber das ist mir gar nicht recht, denn dann komme ich mir immer so alt vor.»
«Alt?» Geli lachte. «Ihr doch nicht, Frau Marysa. Wo Eure Frau Mutter selbst noch nicht alt ist.»
«Ich weiß, aber im Dezember feiere ich trotzdem schon meinen zwanzigsten Geburtstag.»
«Ein wahrhaft biblisches Alter», antwortete Geli verschmitzt.
Beide Frauen lachten herzlich, doch plötzlich wurde Geli wieder ernst. «Frau Marysa? Habt Ihr den Mönch eben gesehen?»
Überrascht blickte Marysa sich um. «Welchen Mönch meinst du?»
Geli wies auf die Einmündung zur Klappergasse. «Den Dominikaner. Eben stand er noch da. Er hatte, glaube ich, ein Maultier dabei.»
Marysa runzelte die Stirn. «Und?»
«Er hat zu uns herübergestarrt – irgendwie unheimlich. Jetzt ist er weg.»
Ein merkwürdiges Gefühl streifte Marysa, verflüchtigte sich jedoch sogleich wieder. «Was meinst du mit
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