Der gläserne Schrein (German Edition)
Jahr gab es keine Aussicht auf eine Einigung. Dabei führte Marysa, dank der Zunftgesetze, dessen Schreinwerkstatt weiter. Außerdem hatte sie Kontakt zu den früheren Geschäftspartnern ihres Vaters aufgenommen und sich über diese Verbindungen inzwischen einen guten Ruf als Reliquienhändlerin erworben. Testamentarisch war ihr Reinolds Haus zugesprochen worden. Sie erhielt eine nicht geringe Leibrente, das Siegelrecht war ihr ebenfalls zuerkannt worden. Sie war also voll geschäftsfähig und hätte leicht auch ohne einen neuen Ehemann auskommen können.
Doch vor dem Gesetz war eine alleinstehende Frau leider nicht viel wert. Da sie eine wohlhabende Meisterwitwe war, rissen sich die unverheirateten Gesellen aus der Zunft der Schreiner geradezu darum, sie vor die Kirchenpforte führen zu dürfen. Und nicht nur die. Auch verschiedene Kaufleute hatten bereits bei ihr vorgesprochen. Sie hätte also die freie Auswahl gehabt. Aber sie war nicht sonderlich erpicht auf eine neue Ehe. Die Missachtung und Gleichgültigkeit, mit der ihr Reinold begegnet war, hatten ihr alle Illusionen über den Ehestand geraubt und ihr den Gedanken daran, mit einem Mann Tisch und Bett zu teilen, gründlich vergällt.
Dennoch wusste sie, dass sie über kurz oder lang keine andere Wahl haben würde. Nach zwei Jahren hatte sie die Werkstatt mitsamt den beiden Gesellen, die sie nach Reinolds Tod eingestellt hatte, in die Hände eines fähigen Schreinbauermeisters zu legen oder aber einen Gesellen aus diesem Handwerkszweig zu ehelichen, um ihm die Meisterwürde zu verschaffen. Heiratete sie einen handwerksfremden Mann, so würde sie die Werkstatt ebenso aufgeben müssen, wie wenn sie nach Ablauf der Frist noch ledig bliebe.
Energisch verdrängte Marysa diese Gedanken und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Mutter. «Denkt ihr an das große Essen, das ich morgen Abend zu Ehren der ungarischen Handelsleute gebe? Ich habe Milo und Jaromir heute früh losgeschickt, eine Fuhre Holz zu holen. Als sie zurückkehrten, berichteten die beiden, die Männer seien bereits in Aachen eingetroffen und hätten sich im Goldenen Ochsen einquartiert.
Jolánda nickte eifrig. «Aber ja doch. Selbstverständlich kommen wir! Ich frage mich, ob einer von ihnen Nachrichten über meine Familie hat.» Sie blickte wehmütig in die Ferne. «Wie lange habe ich Vater schon nicht mehr gesehen. Ich hoffe, mein Brief mit dem Bericht von Éliás’ Geburt hat ihn überhaupt erreicht. Er muss doch wissen, dass er nach so vielen Jahren noch einmal einen Enkelsohn bekommen hat.»
Marysa legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. «Ganz gewiss hat er den Brief erhalten, Mutter.»
«Hm.» Jolánda schien sich nur mit Mühe von den Erinnerungen an ihre Familie losreißen zu können. Schließlich sah sie Marysa wieder ins Gesicht. «Was wird Balbina für die Händler kochen? Bereitet sie eine ihrer Spezialitäten vor?»
«Sie wird ihre berühmten heidnischen Kuchen mit Kräutersoße zubereiten. Dazu Safranbrot mit Apfelbutter und außerdem noch Bratäpfel. Du weißt doch, wie viele Äpfel wir dieses Jahr haben. Wir wissen kaum, wohin damit. Die Mieten im Keller sind übervoll.»
«Das klingt ja ausgezeichnet», befand Jolánda. «Aber Safranbrot? Ist das nicht furchtbar teuer?»
Marysa schüttelte den Kopf. «Johann Scheiffart hat mir ein Kästchen mit Küchengewürzen zukommen lassen. Anstelle einer Bezahlung für die Ursulareliquie, die ich ihm aus Köln beschafft habe.»
Besorgt ergriff Jolánda die Hand ihrer Tochter. «Du machst Geschäfte mit dem Kanoniker? Ich dachte, er führt selbst einen Reliquienhandel für das Marienstift.»
«Das tut er auch», bestätigte Marysa. «Aber er ist im Augenblick viel zu sehr mit den Einladungen für die Einweihung der Chorhalle beschäftigt. Außerdem war diese Reliquie für ihn persönlich bestimmt.» Sie legte den Kopf zur Seite. «Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Mutter. Scheiffart ist harmlos.»
«Wie bitte?» Empört starrte Jolánda sie an. «Er wollte dich vergangenes Jahr auf den Scheiterhaufen bringen! Nennst du das etwa harmlos?»
«Aber Mutter, so ist es nicht gewesen», versuchte Marysa sie zu beschwichtigen. «Er wurde doch genauso angeklagt wie ich.» Sie hielt einen Moment inne. «Ich gebe ja zu, dass er nicht gerade der angenehmste Zeitgenosse ist. Seitdem ich ihn überzeugen konnte, dass mein Geschäft lauter und vorbildlich geführt wird, ist er ganz umgänglich geworden. Offenbar
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