Der gläserne Schrein (German Edition)
hörte auch ihr Herz irgendwann auf, sich jedes Mal zu überschlagen, wenn er in ihre Nähe kam.
***
Nach dem Essen verabschiedete Christophorus sich mit dem Hinweis, er müsse sich langsam wieder auf seine Pflichten als Ablasskrämer besinnen. Marysa entschloss sich zu einem kurzen Besuch bei ihrer Mutter. Sie hatte gerade Milo zu sich gerufen und ihren Mantel übergeworfen, als ein Pochen an der Haustür einen Besucher ankündigte.
Milo eilte durch die Werkstatt und öffnete einem jungen Geistlichen in der schwarzen Tracht der Domherren. Dieser stellte sich als Dederich van Weyms vor und bat darum, kurz mit der Hausherrin sprechen zu dürfen.
Neugierig trat Marysa in die Werkstatt und musterte den Kanoniker. Er war groß und dünn, ja beinahe dürr. Sein schmales, jungenhaftes Gesicht wirkte klug und ein wenig ätherisch, als verbringe er seine Zeit hauptsächlich mit Kontemplation und Gebet.
«Was kann ich für Euch tun, Herr van Weyms?», fragte sie ihn freundlich.
Der junge Kanoniker wich ihrem Blick verlegen aus und antwortete: «Johann Scheiffart schickt mich zu Euch, Frau Marysa. Er lässt Euch ausrichten, dass er Eure Entscheidung, den Auftrag des Marienstifts abzulehnen, sehr bedauert, jedoch versteht, dass Ihr Euch derzeit nicht in der Lage dazu fühlt. Er möchte gerne wissen, ob Ihr wenigstens für ihn persönlich einen kleinen …»
«Moment!», unterbrach Marysa ihn erstaunt. «Was sagt Ihr da? Ich habe den Auftrag doch gar nicht abgelehnt.»
Leicht befremdet blickte er ihr ins Gesicht. «Aber Euer Verwandter, der Meister Schrenger, war doch persönlich im Marienstift und hat Herrn Scheiffart die Nachricht überbracht. Ich war sogar anwesend! Er sagte, Ihr habet momentan genug Sorgen wegen Eures Stiefvaters und müsstet Euch auch um Eure Frau Mutter kümmern, die unter der ganzen Situation sehr leidet. Meister Schrenger hat sich sofort angeboten, für Euch einzuspringen, damit das Marienstift so schnell wie möglich die benötigten Reliquienschreine erhält.»
«Das ist ja wohl …» Marysa schnappte nach Luft. «Eine Unverschämtheit!», stieß sie wutentbrannt hervor. «Wie kann er es wagen! Nichts davon ist wahr, Herr van Weyms! Geht und sagt das Herrn Scheiffart. Halt, nein, das sage ich ihm selbst. Milo!» Sie winkte den Knecht herbei und schob den verdutzten Kanoniker vor sich durch die Tür. Mit großen Schritten eilte sie der Domimmunität entgegen, sodass die beiden Männer fast schon Mühe hatten, ihr zu folgen. «Führt mich zu Herrn Scheiffart», verlangte sie brüsk, als sie beim Stift angelangt waren.
Ob ihres aufgebrachten Tons senkte der Geistliche demütig seinen Kopf und beeilte sich, ihrem Befehl nachzukommen. Nur wenig später führte er sie in den Empfangsraum des Domherrn, der sich bei ihrem Eintreten rasch von seinem Stuhl erhob. «Frau Marysa, was für eine Überraschung. Ihr hättet Euch nicht herbemühen müssen. Die Nachricht von Meister Schrenger hat mich ja bereits erreicht …»
«Hartwig ist ein Lügner!», entfuhr es Marysa, noch bevor sie richtig nachdenken konnte. «Er ist ohne mein Wissen und dementsprechend auch ohne mein Einverständnis zu Euch gegangen. Ich hatte niemals vor, Euren Auftrag abzulehnen, Herr Scheiffart. Mein Vetter tut das nur, weil er glaubt, über mich bestimmen zu dürfen …»
Johann Scheiffart blieb irritiert mitten im Raum stehen. «Er hat mich belogen?» Seine Miene verzerrte sich zornig. «Da soll mich doch …! Darauf hätte ich gleich kommen sollen, Frau Marysa. Ich habe mich zwar gewundert, dass Ihr Euch so kurz nach unserem doch, wie ich fand, sehr einvernehmlichen Gespräch gegen den Auftrag entschieden habt, aber Meister Schrengers Argumente klangen glaubhaft.» Er schüttelte den Kopf. «Das ist in der Tat eine unglaubliche Frechheit. Es tut mir leid.» Er winkte sie näher und bot ihr einen Sitzplatz an. «Ihr werdet also die Schreine für die Chorhalle bauen?»
Marysa atmete tief ein. «Das werde ich. Über die Details müsst Ihr Euch mit meinen beiden Gesellen besprechen. Ich werde wohl zusätzlich einen guten Schnitzer einstellen müssen, aber …»
«Das freut mich zu hören», unterbrach er sie. «Es soll Euer Schaden nicht sein, Frau Marysa. Was Euren sauberen Verwandten hingegen angeht …»
«Ich werde ihn aufsuchen und zur Rede stellen», sagte sie.
«Ja, das dürft Ihr gerne tun.» Scheiffart nickte grimmig. «Allerdings werde auch ich ihn aufsuchen müssen, denn ganz gleich, aus welchen Motiven er so
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