Der gläserne Schrein (German Edition)
gehandelt hat, steht für mich vor allem die Vermutung im Raum, dass er sich unrechtmäßig an einem Auftrag des Marienstifts bereichern wollte. Dies kann und werde ich nicht dulden.»
Marysa runzelte überrascht die Stirn. «Was meint Ihr damit?»
Scheiffart sah ihr ruhig in die Augen. «Das bedeutet, Frau Marysa, dass es vermutlich zu einer Anzeige wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen kommen wird. Ich werde das Stiftsgericht sofort darüber in Kenntnis setzen. Sollte Meister Schrenger für schuldig befunden werden, kann ihn das teuer zu stehen kommen.» Er hielt kurz inne. «Ihr werdet in dieser Sache eine Aussage machen, nicht wahr?»
***
«Ich verstehe deine Skrupel nicht, Marysa», sagte Jolánda wenig später in äußerst aufgebrachtem Ton. «Das ist nun wirklich die widerlichste Gemeinheit, die Hartwig sich je ausgedacht hat. In einem muss ich Scheiffart recht geben: Dein Vetter hat das nicht nur getan, um dich wegen Gort unter Druck zu setzen. Hast du übrigens schon gehört, was der sich heute Nacht geleistet hat?»
Marysa nickte. «Veronika hat es mir erzählt. Keine Ahnung, woher sie es wusste.»
«Wahrscheinlich hat sie es wie ich auf der Straße aufgeschnappt.» Jolánda lächelte grimmig. «Solche Dinge sprechen sich schnell herum. Aber um noch einmal auf Hartwig zu kommen – du musst gegen ihn aussagen, wenn Scheiffart ihn anzeigt und es zu einer Gerichtsverhandlung kommt.»
«Er könnte eingekerkert werden.» Marysa knabberte an ihrer Unterlippe. Bei dem Gedanken, dass ein weiteres Familienmitglied ins Gefängnis kommen könnte, fühlte sie sich ausgesprochen unwohl.
«Und wennschon!» Jolándas Augen funkelten zornig. «Überleg mal, was er dir antun wollte. Nur, weil er glaubt, das Recht zu haben, über dich und dein Leben zu bestimmen. Ich bin sicher, dass da auch Neid im Spiel ist. Er war bestimmt nicht erfreut, dass Scheiffart dich für die Schreine ausgesucht hat und nicht ihn. Wenn du nicht so schnell reagiert oder sogar klein beigegeben hättest, wäre ihm der lukrative Auftrag zugefallen.»
Marysa zog verärgert die Stirn kraus. «Hartwig gegenüber werde ich niemals klein beigeben!»
«Natürlich nicht.» Jolánda nahm die Hände der jungen Frau und drückte sie. «Schließlich bist du meine Tochter, nicht wahr?»
«Aber wenn Hartwig tatsächlich dafür eingesperrt wird …»
«Soll er im Gefängnis verrotten!»
Plötzlich musste Marysa lachen. «Und von der Rüh befallen werden?»
«Jawohl!»
23. KAPITEL
Zwar hatte Christophorus seine große Ledertasche mit den vorgefertigten Ablassurkunden, den Federkielen und dem fest verschlossenen Tintenhorn mitgenommen, doch wanderte er eher ziellos über den Marktplatz. Er sprach niemanden mit dem freundlichen, hintergründigen Ton an, den er sich für seine Verkaufspredigten zugelegt hatte. Heute brachte er weder die nötige Energie noch den Enthusiasmus auf, mit dem er die Menschen für gewöhnlich davon zu überzeugen pflegte, dass der Erwerb eines Ablassbriefes ihrem Wohl förderlich sei. Stattdessen spürte er seit langer Zeit zum ersten Mal Zweifel, ob das, was er tat, auf Dauer seinem eigenen Seelenheil guttun würde.
Noch immer wehte ein eisiger Wind, der die klamme Luft des Morgens mittlerweile vertrieben hatte. Christophorus zog den Kragen seines Mantels fester zusammen. Er setzte sich trotz der Kälte auf die Stufen, die zum Eingang des imposanten Rathauses hinaufführten. Der Kaxhof lag menschenleer vor ihm; bei diesem Wetter hatten sich alle Einwohner Aachens, denen die Möglichkeit gegeben war, an ihr warmes Herdfeuer zurückgezogen.
Nachdenklich blickte Christophorus zum Dom hinüber, jenem Bauwerk, das schon seit Jahrhunderten in stolzer Größe über die Stadt zu wachen schien. Durch den zur Ehre Gottes und der Heiligen Jungfrau errichteten Anbau der Chorhalle wirkte er noch prächtiger und eindrucksvoller.
Bisher hatte Christophorus immer geglaubt, der Weg, den er eingeschlagen hatte, sei ihm vorherbestimmt gewesen. Er hatte sich in der Rolle, die ihm das Schicksal zugeteilt hatte, immer sehr wohlgefühlt. Deshalb konnte er sich die Zerrissenheit, die ihn seit seiner Ankunft in Aachen ergriffen hatte, nicht erklären.
Kurz dachte er an Estella und fühlte leichtes Bedauern über die Trennung, die er durch sein Verhalten herbeigeführt hatte. Jedoch – und dafür schämte er sich zutiefst – war über Nacht ein weiteres Gefühl hinzugekommen: Erleichterung.
Die kleine Akrobatin hatte es nicht verdient, dass
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