Der gläserne Schrein (German Edition)
seiner Flucht hatte er den Dominikanerpriester oft vermisst. Zwar hatte er in Erfahrung gebracht, dass es Vater Achatius gut ging und er noch immer die Novizen im Frankfurter Ordenshaus betreute, aber besucht hatte Christophorus ihn aus verständlichen Gründen nicht.
Er hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen, um mit einer Tasche voller gefälschter Ablassbriefe im Gepäck durch die Lande zu reisen und den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ein schlechtes Gewissen hatte er dabei nie gehabt. Die Leute gaben ihr Geld für weit sinnlosere Dinge aus als einen Ablassbrief. Obwohl Christophorus im Grunde überhaupt nichts vom Ablasshandel hielt – seiner Meinung nach konnte nur Gott allein über Sünde und Vergebung urteilen –, war er dennoch zufrieden. Immerhin verkaufte er den Menschen mit jedem Ablassbrief ein Stück Hoffnung und Erleichterung. Damit trug er dazu bei, dass wenigstens ein Teil ihrer Sorgen gelindert wurde.
Dass er sich selbst einen stetig anwachsenden Berg von Sorgen aufgehalst hatte, war wohl ausschließlich seiner Loyalität gegenüber dem Mann geschuldet, der neben Vater Achatius jemals wirklich sein Freund gewesen war und der ihn besser gekannt hatte als irgendjemand zuvor.
Sie waren einander zum ersten Mal auf dem Jakobsweg begegnet. Aldo wollte nach Santiago de Compostela, um dort wertvolle Reliquien für seinen Vater, den bekanntesten Reliquienhändler Aachens, zu erwerben. Christophorus war ebenfalls in geschäftlicher Absicht unterwegs; denn er versprach sich auf einem viel begangenen Pilgerweg besonders gute Verkäufe. Zudem hatte er schon lange den Wunsch verspürt, ferne Orte kennenzulernen. Beide Männer gehörten der gleichen Reisegemeinschaft an, die sich kurz vor Paris zusammengefunden hatte, um den nicht immer ungefährlichen Weg gemeinsam zurückzulegen.
Der Gruppe gehörte neben einigen Kaufleuten, mehreren Rittern und vier fremdländischen Gauklern auch ein Barbier mit seinen Gesellen und Lehrlingen an. Einer dieser Barbiergesellen, ein junger und recht zart wirkender Mann namens Artur, schien zu Christophorus’ Überraschung Aldos Aufmerksamkeit geweckt zu haben. Bisher hatte sich Christophorus kaum um die Belange seiner Weggefährten gekümmert, sondern nur das Nötigste mit ihnen gesprochen. Er hatte seinen Wachdienst geleistet, wenn es erforderlich war, und sich ansonsten distanziert verhalten. Nun jedoch war seine Neugier geweckt, und er begann, Aldo genauer zu beobachten. Bald schon keimte in ihm der Verdacht auf, dass der Reliquienhändler offenbar eine Neigung zu Männern verspürte – eine Tatsache, die ihm bei Entdeckung gefährlich werden konnte. Eines Tages, sie hatten bereits eine weite Strecke durch das Frankenland zurückgelegt, entdeckte Christophorus die beiden Männer schließlich tatsächlich in der Scheune eines alten, verfallenen Gehöfts. Zunächst war er über die leidenschaftliche Umarmung und die Küsse, die Aldo Schrenger und der Jüngling Artur austauschten, entsetzt gewesen, denn niemals zuvor hatte er Ähnliches gesehen. Dann jedoch war der Meister des jungen Arturs zusammen mit seinem zweiten Gesellen in Sichtweite gekommen, offenbar auf der Suche nach Artur. Ohne lange nachzudenken, hatte Christophorus gegen die Scheunentür geklopft und Alarm geschlagen, sodass die beiden Liebenden noch rechtzeitig das Weite suchen konnten.
Von jenem Tag an gab es zwischen Christophorus und Aldo eine Verbundenheit, die rasch zur Freundschaft wurde. Die lange gemeinsame Reise und die Kenntnis der Geheimnisse hatten einen unauslöschlichen Bund entstehen lassen.
Aldo war nun schon seit zwei Jahren tot. Was aus Artur geworden war, wusste Christophorus nicht. Er hatte dem Jungen damals zur Flucht aus Pamplona verholfen, nachdem sein Meister hinter seine geheime Beziehung zu Aldo gekommen war und diesen bei einem hinterhältigen Angriff lebensgefährlich mit dem Messer verletzt hatte. Christophorus hoffte, es möge Artur gut ergangen sein, zwang sich jedoch energisch, die Vergangenheit wieder ruhen zu lassen, um sich ganz auf die Gegenwart konzentrieren zu können.
«Werde wieder du selbst», hatte Aldo von ihm gefordert. Zunächst hatte er dies nicht wirklich verstanden und es später als Unsinn abgetan. Er war doch er selbst oder vielmehr das, wozu er sich selbst gemacht hatte: Bruder Christophorus, Dominikaner und Ablasskrämer. Er hatte sich selbst Urkunden verfasst, die jeder kritischen Prüfung standhielten, und sie mit Siegeln versehen,
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